Benedikt Meyers Zeitreise
Die Männer beugten sich tief über das Pergament, rückten die Kerzen näher, zeigten, deuteten, diskutierten und schauten erneut. War das der Plan für ein perfektes Kloster?
Abt Haito war weit herumgekommen. Bis nach Konstantinopel war er im Auftrag Karls des Grossen schon gereist. 819 war er zurück auf Reichenau, der Klosterinsel im Bodensee, und diskutierte nun mit gelehrten Mönchen darüber, wie ein ideales Kloster gebaut werden müsse. Mit dabei waren der Bibliothekar Reginbert (der die antiken Werke über Architektur aus der Klosterbibliothek studiert hatte), der zukünftige Abt Erlebald (Fachmann auf dem Gebiet der Benediktsregel), Propst Tatto (der scharfsinnigste Wissenschaftler in der Klostergemeinschaft), sowie ein unbekannter, auf Schreibarbeiten spezialisierter Mönch, der Notizen machte.
Dieser hatte mit Feder, Zirkel und Lineal die Linien gezogen, über die nun eifrig debattiert wurde. Ställe, ein Spital, eine Unterkunft für den Gärtner: an alles dachten die Mönche. Erlebald wies vielleicht darauf hin, dass der Abt und seine Gäste gemäss Klosterregel eine eigene Küche brauchten. Und so wurden die Entwürfe Stück für Stück ergänzt und verfeinert.
Auslöser der ganzen Debatten war der Abt von St. Gallen. Dessen Kloster hatte sich aus der Einsiedelei Gallus’ entwickelt und war seither planlos gewachsen. Nun wollte er das Kloster umbauen und hatte den erfahrenen Haito deswegen um Rat gefragt. Dieser beugte sich nun über den inzwischen ins Reine gezeichneten Plan, verfasste eine Widmung und liess das fertige Dokument nach St. Gallen bringen. Dort wurde die Vorlage genau studiert. Das Original wird bis heute in der St. Galler Stiftsbibliothek aufbewahrt. Es ist der älteste erhaltene Bauplan aus dem Mittelalter.
Haito trat vier Jahre später als Abt von Reichenau zurück. Seine Spuren hinterliess er aber nicht nur auf der Bodenseeinsel und in St. Gallen. Auch in Basel hat er eine allererste Kirche errichtet. An der Stelle, wo heute das Basler Münster steht.