Das musst du wissen

  • Auf individueller Ebene lehnen wir negative Informationen ab und leugnen sie, um den Alltag zu bewältigen.
  • Leugnen kann auch eine soziale Strategie sein, um sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen.
  • Leugnen ist kein neues Phänomen, aber heute viel leichter wahrzunehmen und zu kommunizieren.
Den Text vorlesen lassen:

Frau Jaffé, egal welches Thema man nimmt, Leugner sind nicht weit. Haben wir ein neues Zeitalter des Leugnens erreicht?
Leugnen hat schon früher stattgefunden, aber es war weniger sichtbar. Heute sind die Menschen viel stärker vernetzt. Dadurch können sich Personen austauschen, die früher nie in Kontakt gekommen wären. Sie können gezielt Informationen, Personen oder Gruppen finden, die ihre Meinung oder Wahrnehmung bestätigen. Zudem hat sich auch die Umwelt verändert. Sie ist sehr komplex geworden. Durch diese Komplexität gibt es nur selten ganz klare Lösungen oder ganz klare Richtungen.

Was bringt uns denn dazu, etwas zu leugnen?
In der Psychologie spricht man von «coping». Wenn ich irgendeine Tatsache oder ein Erlebnis als stressig erlebe, dann muss ich eine Strategie finden, um damit umzugehen. Und hier kann das Ablehnen von Informationen oder auch die emotionale Distanzierung von Informationen helfen, dass ich mich besser fühle oder meinen Alltag bewältigen kann. Beispielsweise kann ich bewusst keine Filme schauen, in denen Tiere geschlachtet werden. Das erlaubt mir, im Alltag ohne schlechtes Gewissen und negative Gedanken Fleisch zu konsumieren. Ich kann aber auch eine negative Gesundheitsprognose ignorieren oder mich weigern eine Rechnung zu öffnen, um das Problem der Verschuldung nicht sehen zu müssen.

Mariela Jaffé


Mariela Jaffé ist Sozialpsychologin an der Universität Basel. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich insbesondere damit, wie Menschen Entscheidungshilfen nutzen, Fake News beurteilen und Vielfalt in Gruppen bewerten.

Das klingt für mich eher nach Verdrängen.
Wer etwas verdrängt, der schiebt schmerzhafte Erfahrungen und Erinnerungen – oder einfach den Gedanken an die Rechnung – beiseite. Leugnen hingegen ist aktiver. Ich möchte die Realität nicht wahrhaben und leugne, dass die Rechnung überhaupt existiert oder irgendein Ereignis jemals passiert ist. Ich kann aber auch aus politischen Motiven leugnen oder, beim Klimawandel beispielsweise, weil ich mein Verhalten nicht anpassen möchte.

Wie unterscheidet sich Leugnen von Lügen?
Wenn ich lüge, stelle ich eine Tatsache anders dar, als ich sie wahrnehme. Es ist also eine Täuschung. Wenn ich etwas leugne, kann es aber sein, dass ich davon überzeugt bin. Und leugnen ist eine Aussensicht. Wenn Sie an etwas glauben, ich aber nicht, dann können Sie mein Verhalten als Leugnen identifizieren. Aber ich selber würde das eventuell nicht so wahrnehmen.

Ist Leugnen eine Art Überlebensstrategie?
Alle Menschen wünschen sich Struktur und Kontrolle in ihrem Leben. Kontrolle erleben wir, wenn wir Dinge verstehen und uns bestätigt fühlen. Wir Menschen haben aber nicht nur das Bedürfnis nach Kontrolle, sondern auch nach Zugehörigkeit, Nähe und Verbindung mit anderen Menschen. Wenn ich in einer Gruppe bin, in der alle den Klimawandel leugnen, kann es sein, dass ich mich dem auch anschliesse, um mich zugehörig zu fühlen – auch wenn ich selber gar nicht davon überzeugt bin. Das wäre dann eine soziale Strategie.

Dann hat Leugnen auch mit Identität zu tun.
Ja, auf jeden Fall. Unser Selbstwert speist sich sowohl aus unserer eigenen Identität als auch aus dem Wert der Gruppe. Wenn wir unsere Gruppe also irgendwie stärken können, etwa indem wir andere Gruppen ablehnen, dann steigt auch unser Selbstwert.

Das klingt so, als wäre Leugnen aus psychologischer Sicht etwas ganz Nützliches?
Bei vielen Dingen kann es eine psychologisch hilfreiche Strategie sein, es kann aber auch zu massiven Problemen führen. Wer ein gesundheitliches Problem leugnet, beispielsweise eine Alkoholsucht, schadet seiner Gesundheit. Wenn jemand einen gesellschaftlichen Konsens verleugnet, kann das zu Konflikten, Reibungen, Missverständnissen und sogar Hass führen.

Gibt es für Leugner irgendwann keinen Weg zurück?
Je stärker und je polarisierter die Meinung ist, und je gefestigter die Meinung in meinem Umfeld, desto schwieriger ist es, da auszubrechen. Vor allem auch, weil man nicht nur die eigene Meinung ändern müsste, sondern man müsste auch mit den Gruppennormen brechen.

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Wie geht man mit Leugnern um?
Ich glaube, es ist wichtig, klar zu kommunizieren und Fakten zu vermitteln. Es ist aber ebenso bedeutsam, Ängste und Alltagssorgen ernst zu nehmen. Und der anderen Person eine wertschätzende Haltung entgegen zu bringen, denn Kommunikation funktioniert ohne Wertschätzung nicht. Ich kann nicht einfach sagen: So, hier ist die Liste mit den Fakten und damit ist das Gespräch beendet. Fehlende Wertschätzung verringert die Gesprächsbereitschaft und kann die Positionen sogar noch verhärten.

Auch bei Themen wie dem Holocaust, wo Leugner die Überlebenden direkt angreifen? Oder das Coronavirus, wo Leugnen Menschenleben fordern kann?
Je nach Thema muss man die Strategie anpassen. Um ein Gespräch überhaupt führen zu können, ist es aber trotzdem wichtig, die Person nicht pauschal herabzusetzen und geringzuschätzen. Sobald man den Selbstwert des Gegenübers durch Beleidigung oder Beschämung massiv angreift, ist eine fruchtbare Diskussion nur noch schwer möglich. Zentral ist aber in jedem Fall, die Faktenlage und Quellen ganz klar zu benennen.

Was braucht es, damit jemand dem wissenschaftlichen Konsens mehr vertraut als der Meinung eines Gruppenführers?
Wenn jemand eine pointierte Meinung äussert, vermittelt das vielen von uns mehr Sicherheit und damit Kontrollierbarkeit als eine wissenschaftliche Studie, die wahrscheinliche Zusammenhänge aufzeigt. Denn Meinungen sind klarer und zeigen vermeintlich einfacher auf, was man gegen ein Problem tun kann. Unsere Welt ist aber nun mal viel komplexer. Alles beruht auf Wahrscheinlichkeiten. Den Unterschied zwischen Meinung und Wissenschaftlichkeit muss man aushalten können. Ganz wichtig ist zudem, keine falschen Informationen zu wiederholen. Denn je öfter ich etwas lese, desto vertrauter kommt es mir vor. Auch wenn mir am Anfang gesagt wird, dass es Fake News sind, kann dieses Label irgendwann verloren gehen. Und diese Vertrautheit kann ich dann als Wahrheit interpretieren.

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