Das musst du wissen
- Didier Raoult hat Elisabeth Bik verklagt, weil sie öffentlich Bedenken über seine Forschungsarbeiten äusserte.
- Er wirft ihr Mobbing und moralische Belästigung vor.
- Forschende befürchten nun, dass diese Klage einen abschreckenden Effekt auf wissenschaftliche Kritik haben könnte.
Warum dies ernst ist. Wissenschaftliche Forschung kommt dank Debatten unter Kollegen der wissenschaftlichen Gemeinschaft voran. Manchmal sind es auch hitzige Auseinandersetzungen. Aber ist das Gericht der richtige Ort, um wissenschaftliche Streitigkeiten zu schlichten? Und sind es die sozialen Netzwerke?
Der Hintergrund der Klage. Alles begann mit Kommentaren, die auf PubPeer ausgetauscht wurden. Auf dieser Plattform werden Studien nach ihrer Veröffentlichung von Fachkolleginnen und Fachkollegen genauer angeschaut und diskutiert. Letztere können anonym oder namentlich intervenieren. Elisabeth Bik stellte in ihrem eigenen Namen mehrere Fragen zu Artikeln, die von den beiden IHU-Forschern, Didier Raoult und Eric Chabriere, unterzeichnet worden waren.
Die erste Arbeit, die auf diese Weise untersucht wurde, war eine Vorveröffentlichung aus dem Jahr 2020. Diese sagte aus, dass Hydroxychloroquin in Kombination mit Azithromycin eine wirksame Behandlung für Covid-19 darstellt. Die Studie erhielt wegen ihrer methodischen Mängel starke Kritik. Seitdem haben mehrere Studien mit hohem Evidenzgrad gezeigt, dass diese Medikamente keinen Einfluss auf die Heilung von Covid-19 haben.
Die beiden IHU-Forscher fühlten sich beleidigt und zeigten Elisabeth Bik wegen Mobbing und moralischer Belästigung an. Boris Barbour, ein Forscher an der französischen Ecole Normale Supérieure (ENS) und dem Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und Co-Administrator der PubPeer-Webseite, wurde ebenfalls von der Klage ins Visier genommen. Es wird der «Mittäterschaft durch Bereitstellung der Mittel für diese Straftaten» beschuldigt.
Laut Brice Grazzini, dem Anwalt von Didier Raoult, der von Science zitiert wird, stellt die Lawine der E-Mail-Benachrichtigungen von Pubpeer – das automatisch eine Nachricht an den Autor eines Artikels sendet, der einen Kommentar erhalten hat – eine Belästigung dar. Und zwar wegen der Zeit, die die IHU-Forscher aufwenden müssen, um darauf zu antworten.
Verkehrte Welt? Obwohl ihr moralische Belästigung vorgeworfen wird, ist es eigentlich Elisabeth Bik, die belästigt wird. Didier Raoult nannte sie während einer öffentlichen parlamentarischen Anhörung «verrückt». Er erklärte dann in einem auf YouTube veröffentlichten Video: «Diese Frau Bik agiert völlig entfesselt gegen mich. Sie belästigt mich mit ihrer Bande, in einem Rudel und diffamiert mich […]». Gleichzeitig postete Eric Chabrière eine Kopie der Klage auf Twitter, die private Adressen enthielt. Diese verwischte er allerdings einige Tage später wieder.
In der politischen Kommunikation würde man dies als «Zünden eines medialen Gegenfeuers» bezeichnen. Denn in der Sache haben die IHU-Forscher keine der von Elisabeth Bik gestellten Fragen beantwortet. Und der Schaden ist angerichtet, denn die wissenschaftliche Integritätsberaterin wird weiterhin regelmässig auf Twitter angegriffen, meist von anonymen Accounts.
Der offene Brief. Als Reaktion auf die Affäre haben ein Dutzend Forscher, darunter mehrere aus der Schweiz, einen offenen Brief verfasst, in dem sie Elisabeth Bik unterstützen und mehr Transparenz und Untersuchungen zu möglichem wissenschaftlichen Fehlverhalten fordern. Mehr als 1000 Forschende und 22 Fachgesellschaften haben den Brief inzwischen unterzeichnet. Der Brief wurde im Guardian, in Nature sowie in Science zitiert und ging um die Welt. Die Autoren schreiben:
«Diese Mobbing-Strategie schafft einen abschreckenden Effekt (chilling effect) nicht nur für Whistleblower, sondern auch generell für akademische Kritiker.»
Sie fügen hinzu: «Akademische Kritik, insbesondere im Bereich der wissenschaftlichen Integrität, stellt viele Herausforderungen dar. Es ist besonders wichtig, sich auf die wissenschaftlichen Beweise zu konzentrieren und nicht jemanden wegen seines Aussehens, seiner Person oder seiner Persönlichkeit anzugreifen.»
_____________
Abonniere hier unseren Newsletter! ✉️
_____________
Institutionelle Reaktionen. In Frankreich haben sie lange auf sich warten lassen. Am 1. Juni 2021 war es die Ecole normal supérieure, bei der Boris Barbour arbeitet, die schliesslich mit einer Stellungnahme reagierte:
«Dies ist eindeutig ein Versuch, die wissenschaftliche Debatte zum Zweck der Einschüchterung zu verrechtlichen, was inakzeptabel ist.»
Die Institution weist darauf hin, dass «die Debatte unter Kollegen und nicht im Gerichtssaal die Grundlage der wissenschaftlichen Wahrheit ist», und dass «die öffentliche und offene Kritik an den Argumenten einer bestimmten Forschungsarbeit und an der wissenschaftlichen Integrität, die manchmal hitzig sein kann, auf die gleiche Weise unter Kollegen erfolgen muss und ihren eigenen Regeln folgt, die jeder respektieren muss». Schliesslich warnt sie davor, Genres zu vermischen:
«Wenn auch das persönliche Verhalten von Forschern untereinander eine Angelegenheit des allgemeinen Rechts ist, wie das aller anderen auch, und nicht der Wissenschaft, ist jedoch die Vermischung der Ordnungen – zwischen juristischen Verfahren und wissenschaftlichen Konflikten – schädlich für alle, für die Forschung im Allgemeinen und für das in sie gesetzte Vertrauen.»
Eine unbequeme Plattform. Auch das CNRS reagierte am 7. Juni 2021 und sagte, dass es «die Verrechtlichung von wissenschaftlicher Kritik und Kontroverse nicht akzeptieren kann. Diese sind unabdingbar, wenn sie konstruktiv und begründet sind» und dass «ein Gerichtssaal kein Labor ist», erinnerte aber gleichzeitig daran:
«Das CNRS hat immer die grössten Vorbehalte gegen die Tatsache geäussert, dass PubPeer anonyme Rezensionen wissenschaftlicher Artikel veröffentlichen kann und damit zu den Auswüchsen bestimmter sozialer Netzwerke beiträgt, in denen anonyme Beleidigungen und Anschuldigungen alltäglich geworden sind.»
Dies ist nicht das erste Mal, dass das CNRS oder seine Vertreter PubPeer kritisieren, insbesondere wegen der Möglichkeit, anonyme Kommentare zu veröffentlichen. Die Plattform erinnerte ihrerseits daran, dass sie eine strenge Politik der Inhaltsmoderation hat, um die ordnungsgemässe Verwendung der Anonymität zu gewährleisten. Auch Elisabeth Bik reagierte: «Wenn jemand ‚Feuer‘ schreit und man sieht Rauch und Flammen, muss man handeln, egal wer die Person ist.»
Schliesslich ist es die Medienmitteilung der CNRS-Ethikkommission, die einer Stellungnahme am nächsten kommt:
«Indem sie Didier Raoult und Eric Chabrière bitten, zu den Artikel Auskunft zu geben, die sie geschrieben haben, tun Elisabeth Bik und Boris Barbour nur ihre Arbeit. Die Kontroverse ist in der Tat eine wissenschaftliche Tätigkeit, solange sie den Regeln der intellektuellen Debatte gehorcht und auf objektivierbaren Fakten beruht.»
Bis heute haben weder das französische Amt für wissenschaftliche Integrität, noch das Forschungsministerium, noch die Aufsichtsorgane der IHU reagiert.
Die zweideutige Rolle der sozialen Netzwerke. Die Zaghaftigkeit der ersten Medienmitteilung des CNRS zeigt die Spannungen, die die akademische Forschung angesichts des Aufkommens von Online-Plattformen wie PubPeer, aber auch sozialen Netzwerken wie Twitter erleben. Einerseits haben die sozialen Netzwerke den durch die Pandemie isolierten Forschern ermöglicht, neue und fruchtbare Kooperationen zu entwickeln und wissenschaftliche Diskussionen zu führen. Andererseits sind diese Plattformen anfällig für die Polarisierung von Meinungen und für eine Mobbing-Dynamik. Soziale Netzwerke wurden auch für wissenschaftliche Falschinformationen benutzt.
Während auf schwerwiegende Tatsachen hingewiesen wird, rügt die erste CNRS-Medienmitteilung die Plattform. Das mag an die Kritik an sozialen Netzwerken im Zuge des Cambridge-Analytica-Skandals erinnern, als ginge es in diesem Fall vor allem um Technologie. Am Ende bleibt die Frage, ob die sozialen Netzwerke nicht zu Laboratorien und Gerichtssälen zugleich geworden sind und ob nicht auch die Wissenschaft in die Post-Truth-Ära eingetreten ist.