Jürg Knessl


Jürg Knessl hat neben Medizin Philosophie studiert und unterrichtet Medizinethik an der Universität Zürich. Er ist orthopädischer Chirurg in der Hirslanden-Gruppe.

Jürg Knessl, Sie sind Facharzt für orthopädische Chirurgie: Wie gehen Sie mit den Schuldgefühlen um, wenn eine Operation misslungen ist?

Dass eine Operation im eigentlichen Sinne misslingt, ist ausgesprochen selten. Aber es gibt Fälle, in denen eigentlich alles gut gegangen ist und der Patient oder die Patientin trotzdem über länger dauernde Schmerzen klagt. Man fragt sich dann: Was hätte ich anders machen können? Hätte ich die Operation besser nicht vorgenommen? Es ist einem nicht wohl. Und es ist frustrierend. Da ist man besser dran, wenn man effizient verdrängen kann.

Was passiert im schlimmsten Fall, also wenn der Arzt am Tod eines Patienten mitschuldig ist? Bekommt er Unterstützung, um die Schuldgefühle zu verarbeiten?

In der orthopädischen Chirurgie ist der Tod ein seltener Gast. Mir sind bisher mehr Spitäler – nämlich drei – unter der Hand gestorben als Patienten, nämlich nur eine Patientin postoperativ. Aber einen bleibenden Schaden verursacht zu haben, ist eine schwere, oft lebenslange Last. Man ist damit in der Regel allein. Unterstützung kriegt man eigentlich keine. Es gibt eine Stelle beim Berufsverband der Schweizer Ärzte, FMH, die Hilfe anbietet. Nicht alle Chirurgen haben aber «den Mut eines Löwen, die Ausdauer eines Wolfes und die Hand einer Frau», wie es früher einmal geheissen hat. Die wenigsten sind Löwen. Manche haben die Seelenstärke einer Spitzmaus, wie die meisten Menschen.

Sie sind auch Philosoph: Was ist Schuld aus dieser Sicht?

Schuld heisst, etwas getan zu haben, was nicht zulässig ist und einem vorgeworfen werden kann. Die Vorwerfbarkeit stützt sich dabei auf unsere Überzeugung, dass wir über einen freien Willen verfügen, der uns befähigt, zwischen moralisch richtig und falsch zu unterscheiden. Das persönliche Gefühl, schuldig geworden zu sein, setzt wiederum voraus, dass wir in der Gesellschaft, in der wir leben, die geltenden Verbote akzeptieren und verinnerlicht haben. Diese waren, wenn wir von archaischen Tabu-Vorschriften absehen, primär grundsätzlich religiöser Natur. Während auf der einen Seite strikte und bei deren Nichtbefolgen stark angstgenerierende göttliche Befehle standen, hatten die alten Griechen beispielsweise kein Wort für die individuelle Schuld. Es gab die Gesetzesübertretung, für die man bestraft wurde. In unserer Gesellschaft hat man in der Regel noch Schuldgefühle.

Wie würde eine Welt aussehen, in der sich niemand schuldig fühlt?

Vielleicht bewegen wir uns genau in diese Richtung. Die persönliche Verantwortung wird zunehmend auf Gruppen übertragen oder anonym. Herbert Grönemeyer sang: «Gebt den Kindern das Kommando. Sie berechnen nicht, was sie tun. Es gibt kein Gut, es gibt kein Böse.» Heute will man immer weniger Schuld auf sich nehmen. Verantwortung zu übernehmen, heisst aber, fähig zu sein, sich schuldig zu fühlen.

Ist das Empfinden von Schuld nicht eine völlig unnütze Emotion, die uns daran hindert, positiv durch Leben zu gehen?

Eine Welt, bevölkert von Menschen, die ohne Schuldgefühle positiv durch Leben gehen, entspräche eher einer Zombie-Horrorvorstellung. In einer solchen Welt möchte ich nicht leben. Franz Kafka meinte: «Die Schuld ist immer zweifellos.» So übertreiben muss man aber auch nicht.

Dieser Beitrag erschien erstmals im doppelpunkt.
Serie

Die Macht der Schuldgefühle

Am Freitag erfährst du im zweiten Teil, dass Eltern Kinder zu nachsichtig behandeln, wenn sie das Gefühl haben, zu wenig für sie da zu sein.

Im dritten Teil am Samstag liest du, dass die Schuldgefühle eines Täters für den Richter Nebensache sind.

Und am Sonntag lernst du im vierten Teil, dass Schuldgefühle auch auf struktureller Ebene nötig wären.

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