Das musst du wissen
- Altruismus ist eine Art des Verhaltens, bei der man nicht aufgrund von Belohnungen oder Verpflichtungen handelt.
- Dass wir jemandem helfen, kann je nach Situation sowohl altruistisch als auch egoistisch motiviert sein.
- Generell sind wir gewillter, Menschen zu helfen, die uns ähnlich sind.
Hans-Werner Bierhoff, was versteht man unter Altruismus?
Altruistisches Verhalten ist dann gegeben, wenn man einer anderen Person eine Wohltat erweist – und das nicht aufgrund von Belohnungen oder dienstlichen Verpflichtungen.
Es springt also nichts für mich raus, wenn ich altruistisch bin. Wie erklärt die Wissenschaft, dass Menschen sich trotzdem so verhalten?
Die Forschung zeigt, dass es im Menschen zwei Antriebssysteme gibt: ein egoistisches und ein altruistisches Motivsystem. Wichtig ist die Erkenntnis, dass Hilfeleistungen in alltäglichen Situationen in der Regel sowohl egoistisch als auch altruistisch motiviert sind. So geschehen viele alltägliche Formen der Hilfeleistung, etwa einem Mitschüler bei den Hausaufgaben zu helfen, sowohl aufgrund egoistischer Erwartung auf Lob und Bestätigung, als auch aufgrund altruistischer Motive, die auf Mitgefühl beruhen. Daher ist es im Alltag schwierig, zu unterscheiden, ob eine bestimmte Hilfeleistung nun altruistisch oder egoistisch motiviert ist. Typisch ist eben eine Mischung.
Hans-Werner Bierhoff
Irgendwie beruhigend, dass wir alle sowohl altruistische als auch egoistische Anteile in uns haben. Dann gibt es also nicht den Egoisten und den Altruisten?
Absolut. Das ist unabhängig von der Persönlichkeit. Je nach Situation entsteht altruistische Motivation, zum Beispiel durch Ähnlichkeit: Je ähnlicher Sie einer anderen Person sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass Sie dieser Person helfen und sich ihr gegenüber altruistisch verhalten. Aber auch bestimmte Instruktionen können jemanden dazu bringen, altruistisch zu denken. Zum Beispiel, wenn ich jemandem sage: «Versetze dich in die andere Person hinein.» Weil man dazu aufgefordert wird, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, entsteht Mitgefühl – und daraus dann eine altruistische Motivation.
Was kann ich machen, wenn ich Menschen dazu bringen will, sich freiwillig zu engagieren, was ja auch eine Art von altruistischem Verhalten ist?
Auch für freiwilliges Engagement gibt es normalerweise altruistische und egoistische Motive. Das egoistische Motiv liegt typischerweise darin, dass man mit anderen, die in der Hilfsorganisation tätig sind, gemeinsame Erlebnisse hat. Ausserdem ist es unterhaltsam, mit anderen zusammen zu sein, die das gleiche Interesse haben. Dadurch fühlt man sich bestätigt. Oder man möchte neue Erfahrungen sammeln und seinen Erfahrungsschatz erweitern. Das wären alles egoistische Motive für ehrenamtliche Tätigkeit.
Die man aber natürlich auch ausnutzen könnte.
Ja, natürlich. Um Freiwillige anzuwerben, kann man diese Dinge absichtlich ansprechen. Zum Beispiel, indem man sagt: «Wer bei uns mitarbeitet, sammelt vielfältige neue Erfahrungen und lernt sich besser kennen.» So kann man die egoistische Motivation für Freiwilligenarbeit hervorrufen. Auf der anderen Seite könnte man aber auch die altruistische Motivation ansprechen. In diesem Falle sollte man an die soziale Verantwortung appellieren. Zum Beispiel könnte man darauf hinweisen, dass jeder Bürger eine soziale Verantwortung für die Gemeinschaft und für andere Menschen hat. Aber auch bei der ehrenamtlichen Tätigkeit gibt es typischerweise eine Vermischung von egoistischen und altruistischen Motiven. Man engagiert sich also freiwillig, weil man gerne mit den anderen Helfern zusammen ist und die soziale Gemeinschaft angenehm findet, aber gleichzeitig möchte man auch als verantwortungsvoller Bürger handeln.
Dann gibt es den wirklich reinen Altruismus gar nicht?
Den kann es schon geben. Aber es ist selten, dass nur eine der beiden Komponenten dominiert. Häufig ist es aber so, dass eine der Komponenten stärker vorhanden ist als die andere. Bei einer ehrenamtlichen Hilfe wie den Rettungsschwimmern gibt es zum Beispiel viele Leute, die da sind, weil sie damit ihre Fähigkeiten zeigen können – also gut zu schwimmen und die Rettung von Personen zu beherrschen. Da liegen belohnende Erfahrungen drin. In diesem Fall würden eher egoistische Motive eine Rolle spielen, während in anderen Bereichen eher altruistische Motive wichtig sind. Es hängt immer von dem einzelnen Helfer ab, der Situation, in der er sich befindet, und wie bei ihm die beiden Motivbereiche ausgeprägt sind.
Stehen egoistische Motive den altruistischen nicht im Weg?
Nein, das muss nicht sein. Egoistische Motive müssen mit den altruistischen nicht im Widerspruch stehen. Das ist natürlich möglich, aber oft wirken sie auch gut zusammen – gerade im ehrenamtlichen Bereich gehen beide häufig in dieselbe Richtung.
Sie haben vorhin von der Ähnlichkeit gesprochen, die altruistisches Verhalten begünstigt. Damit meinten Sie wahrscheinlich nicht eine optische Ähnlichkeit, oder?
Nein, damit meinte ich eine Ähnlichkeit im Sinne von gleiche Nationalität, gleiches Geschlecht oder gleiche Religion. Auch die Sprache kann ein solches Merkmal sein. Je ähnlicher ich mich einer Person in diesen Merkmalen fühle, desto hilfsbereiter bin ich ihr gegenüber.
Weil man dann denkt, der gehört zu meiner sozialen Gruppe?
Ganz genau. Der andere gehört dann zur eigenen Ingroup – wie Psychologen das nennen. Zum Beispiel, wenn jemand Deutsch spricht, dann denke ich eher, diese Person gehört zu meiner Gruppe, als wenn jemand Englisch spricht. Eine Person, die zur Ingroup gehört, hat gute Chancen, dass sie eine altruistische Motivation auslöst. Wer hingegen zur Outgroup zählt, der löst selten eine altruistische Motivation aus. Passieren kann das natürlich trotzdem. Menschen können diese Tendenz sozusagen überwinden und sich auch gegenüber einem Outgroup-Mitglied altruistisch verhalten. Aber das bedarf eines zusätzlichen Gedankens. Etwa wenn man sich bewusst macht oder einem klargemacht wird, dass auch jemand, der nicht zur Ingroup zählt, es verdient, Hilfe zu bekommen. Aber generell ist Ähnlichkeit ein wichtiger Faktor und ruft spontan mehr Hilfsbereitschaft hervor als Unähnlichkeit.
Dann ist äusserliche Ähnlichkeit wahrscheinlich trotzdem nützlich, um altruistisches Hilfeverhalten zu triggern.
Ja, wenn das bestimmte charakteristische Merkmale sind. Zum Beispiel gab es früher die Hippie-Kultur. Und wenn ein Hippie einen anderen Hippie gesehen hat, dann haben die gedacht, «wir sind uns ähnlich», und haben sich eher geholfen. Wohingegen jemand, der konventionelle Kleidung trug, dann eher jemandem half, der genauso angezogen war – und eben keine Hippiekleidung anhatte. Der Ähnlichkeitseffekt kann also auch aufgrund eher oberflächlicher Merkmale wirksam werden.
Neben der Ähnlichkeit: Was bringt einen Menschen sonst noch dazu, sich altruistisch zu verhalten?
Der Hauptfaktor, der altruistisches Verhalten auslöst, ist das Mitgefühl. Schon bei zwei- bis dreijährigen Kindern fängt das an zu wirken.
Unabhängig von der Kultur, in der das Kind aufwächst?
Ja, das ist kulturunabhängig. Mitgefühl ist überall schon in der frühkindlichen Phase beobachtbar. Natürlich kann es dann je nach Kultur, in der das Kind aufwächst, unterschiedlich stark unterstützt werden. In Kulturen, wo Gemeinsamkeit in der Familie und die Interdependenz betont werden, kann sich das Mitgefühl stärker entwickeln als in einer individualistischen Kultur, in der das Mitgefühl nicht so stark thematisiert wird. Aber es ist eben trotzdem vorhanden, weil es einfach Teil der natürlichen Entwicklung des Menschen ist.
Wie ist das in unserer westlichen Kultur?
Wir wachsen in einer eher individualistischen Kultur auf. Altruistisches Verhalten steht bei uns nicht so stark im Vordergrund, sondern entwickelt sich parallel. Aber das ist egal. Denn es ist ein Teil der natürlichen Entwicklung der Emotion des Menschen. Auch wenn unsere Gesellschaft das Mitgefühl nicht besonders betont, es entwickelt sich trotzdem.