Die beiden Physiker Georg Bednorz und Karl Alexander Müller entdeckten die Hochtemperatur-Supraleitung. Nur ein Jahr nach Veröffentlichung ihrer bahnbrechenden Arbeit wurden sie mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.

Beat Glogger: Sie beiden haben schon sehr viele Interviews gegeben. Welche Frage möchten sie nicht mehr hören?

Alex Müller: Sie dürfen alles fragen.

Georg Bednorz: (lacht) Ob ich mit dem Nobelpreis gerechnet habe.

Haben Sie denn damit gerechnet?

Bednorz: Natürlich nicht. Ein Nobelpreis ist so etwas Entferntes, dass man sich damit nicht beschäftigen sollte.

Sie haben einmal gesagt, Physik sei für Sie etwas Mystisches. Passt das zusammen: Naturwissenschaft und Mystik?

Bednorz: Sicher. Es ist etwas Geheimnisvolles, wenn man eines der Schlüsselexperimente sieht, die als Beweis der Supraleitung dienen: diesen schwebenden Magneten. Das ist wie die schwebende Jungfrau, die uns Zauberer vorgaukeln. Aber hier ist es kein Trick, sondern Wirklichkeit – faszinierende Physik.

Sie sind also kein Zauberer; als was fühlen Sie sich denn?

Bednorz: Eher als Kreateur. Als einer, der neue Realitäten schafft.

Sie wurden auch schon als Alchemist bezeichnet.

Bednorz: Wenn der Alchemist Pülverchen gemischt hat, weiss ich nicht, ob er etwas Besonderes als Ziel gehabt hat. Wenn aber ein Festkörperphysiker oder Festkörperchemiker Pülverchen mischt, dann hat er etwas im Hinterkopf. Darum würde ich es eher mit einem Koch vergleichen. Der versucht, bestehende Rezepte zu variieren. Ich versuche, mehr Pfiff in die Festkörperphysik zu bringen und neue Materialien herzustellen.

Supraleiter

Wikimedia Commons/Peter Nussbaumer

Ein Magnet schwebt über einem mit flüssigem Stickstoff gekühlten Hoch­temperatursupraleiter (ca. −197 °C).

Entdeckt hat die Supraleitung der holländische Physiker Heike Kamerlingh Onnes bereits 1911. Er tauchte Quecksilber in flüssiges Helium mit einer Temperatur von minus 269 Grad Celsius. Schlagartig verlor das Metall seinen elektrischen Widerstand und leitete Strom verlustfrei. Warum das geschieht, darüber streiten Physiker noch heute. Nachdem Karl Alexander Müller und Georg Bednorz zeigen konnten, dass Supraleitung auch bei höheren Temperaturen möglich ist und dafür 1987 den Nobelpreis für Physik erhielten, setzte ein weltweites Rennen um neue Materialien ein. Kommerziell interessant wurde das Phänomen bei minus 196 Grad. Hier reicht zur Kühlung flüssiger Stickstoff. Der ist billig und einfach herzustellen. Erste Anwendungen der Supraleitung bestehen zum Beispiel in den Magnetresonanztomografen (MRI), mit denen sich in der Medizin Bilder aus dem Innern des Körpers ohne schädliche Röntgenstrahlung erstellen lassen. Dabei werden die Signale von supraleitenden Antennen aufgefangen. Ähnliche Antennen spüren auch in der Geologie und der Archäologie feinste Änderungen des Erdmagnetfeldes auf. So kann man zum Beispiel Erzvorkommen oder auch Strukturen von Gebäudeüberresten unter der Erdoberfläche entdecken. Eine grosse Zukunft haben Supraleiter im Energiesektor. Auf Long Island bei New York ist ein supraleitendes Stromkabel installiert, welches dreimal mehr Strom transportiert als herkömmliche Kupferkabel. Auch der SeaTitan, eine gewaltige Windturbine, beruht auf supraleitenden Bauteilen. Er hat eine Leistung von 10 Megawatt – gut zweimal so viel wie die grössten heute installierten Turbinen. Und Japan baut bis ins Jahr 2045 die 500 km/h schnelle Magnetschwebebahn Chuo-Shinkansen von Tokio nach Nagoya. Sowohl in der Bahn als auch auf der Schiene sind supraleitende Magnete verbaut.

Es wurde später behauptet, Ihre Entdeckung sei Zufall gewesen.

Müller: Ich kann belegen, dass es nicht so war. Wir haben danach gesucht.

Spielt Zufall überhaupt eine Rolle in der Wissenschaft?

Bednorz: Ich würde sagen: Glück. Wenn Sie Jahre lang arbeiten, ohne dass sich Erfolg einstellt, dann haben Sie auch mal einen Durchhänger. In genau solch einem Moment blätterte ich damals wahllos in der Literatur. Da fand ich das Rezept für eine Materialmischung und wusste: Das muss es sein. Das war ein Glücksfall. Aber man muss das Glück auch packen.

Hatten Sie bei Ihrer Entdeckung auch an mögliche Anwendungen gedacht?

Müller: Am Anfang gar nicht. Das war nur um der Forschung willen. Und aus Spass an der Sache.

Interessiert Sie ein Vierteljahrhundert danach die Supraleitung noch immer?

Müller: Natürlich bin ich daran interessiert, zu sehen was draus wird.

Der britische Autor Ian McEwan beschreibt in seinem Roman Solar einen Physik-Nobelpreisträger. Der sitzt eines Tages mit Doktoranden in der Kantine und denkt: «Mein Gott, was erzählen die für dummes Zeug!» Dann merkt er, dass es sich bei dem «dummen Zeug» um moderne Physik handelt. Verstehen Sie die jungen Physiker noch?

Bednorz: Teilweise behandeln die schon ganz neue Aspekte. Ich sehe einen grossen Unterschied zwischen dem, was die heute Jungen an Wissen anhäufen und was bei mir vorhanden ist. Manchmal habe ich etwas Sorge: Sie sind sehr spezialisiert, aber auch sehr schmalspurig.

Haben Sie es nicht manchmal satt, immer über etwas zu reden, das Sie vor langer Zeit vollbracht haben?

Müller: Ich werde zu allen möglichen Tagungen eingeladen. Und die Leute erwarten, dass man da etwas Tiefgründiges von sich gibt. Das ist eine Belastung. Vielleicht hätte ich etwas zu sagen, vielleicht aber auch nicht. Manchmal sitze ich aber ganz einfach lieber zuhause und lese oder bin für mich.

Aber ein Nobelpreisträger ist doch eine Autorität. Man vertraut ihm.

Müller: Natürlich hat das, was ein Nobelpreisträger sagt, Gewicht. Aber vielleicht hat man auch mal gar nichts Substanzielles beizutragen.

Bednorz: Wenn ich für einen Vortrag angefragt werde, will ich immer wissen, warum. Wenn ich zusage, versuche ich, jedes Mal etwas Neues reinzubringen.

Ist das noch möglich?

Bednorz: Ja. Heute wollen die Leute wissen, warum es so lange dauert, bis die Anwendungen der Supraleitung kommen. Da erkläre ich, dass die Forschung Hürden überwinden muss, die man damals noch nicht richtig erkannte.

Wenn Sie also nichts Neues zu sagen haben, lassen Sie sich nicht einladen.

Müller: Ich habe im ersten Jahr nach dem Nobelpreis – ich weiss nicht mehr – über 50 Referate gehalten. Manchmal zwei in einer Woche. Dann habe ich abgebaut. Und eben vor drei Jahren bin ich – wenn Sie so wollen: Gott sei Dank – krank geworden und habe sagen können: Ich bin krank, kann nicht kommen. So ist man nicht unhöflich.

Was wäre aus Ihnen geworden, wenn es keinen Nobelpreis gegeben hätte für die Entdeckung?

Müller: Eigentlich wollte ich nie Wissenschaftler werden. Als ich dann das Diplom von der ETH hatte, das war anno 1952, war eine Stelle bei der Firma Cerberus in Bad Ragaz ausgeschrieben. Die machten Feuermelder. Ich dachte, das wäre doch etwas für mich. Ich ging hin, um mich vorzustellen. Ein Herr hat mich empfangen und mir alles gezeigt. Ich sollte Entwickeln und Leute führen. Ich dachte, das kriege ich hin. Dann ging es gegen Mittag zu und der Herr sagte, er hätte noch einen Termin; ich solle doch im Restaurant essen gehen. Ich ging also essen, dann zurück zu der Sekretärin und sagte ihr, ich hätte die und die Ausgaben gehabt und liesse dem Herrn auf Wiedersehen sagen. Fertig. Das ist meine Art. Wenn es nicht will, dann will es nicht.

Was war genau das Problem?

Müller: Das geht doch nicht. Wenn er mich will und mich dann alleine Mittagessen gehen lässt. Das passiert dem Alex Müller nicht.

Heute gibt es erste Anwendungen der Supraleitung. Man kann damit Geld verdienen. Haben Sie eine Firma, die Ihre Entdeckung vermarktet?

Bednorz: Nein. Ich bin kein Geschäftsmann.

Müller: Ich war sechs Jahre Berater bei der Firma American Superconductors, die Supraleiter kommerzialisieren wollen.

Gegenwärtig wird viel über Energie diskutiert. Hätten Sie nicht Lust, da mal zu zeigen, was überhaupt möglich ist?

Bednorz: Doch natürlich. Ich denke, der Zeitpunkt ist gekommen, wo wir uns Gedanken darüber machen müssen, ob wir Energie weiterhin als alltägliche Sache ansehen oder ob wir damit haushalten und sparen, wo es überhaupt nur möglich ist. Da sind die erneuerbaren Energien eine Variante – und da sind auch Supraleiter gefragt. Im Moment ist alles noch teuer. Aber je mehr supraleitende Kabel man zum Beispiel herstellt, desto tiefer wird der Preis. Es ist nur eine Frage der Zeit: Supraleiter werden kommen.

Herr Müller, Sie sind nun 84 Jahre alt (Anm.: Das Interview wurde 2011 geführt ). Haben Sie sich für die Zukunft noch etwas vorgenommen?

Müller: Ich habe mich intensiv mit C. G. Jung befasst. Habe viel gelesen über Traumdeutung. Das interessiert mich immer mehr. Gerade habe ich ein sehr gutes Buch von einer Mitarbeiterin von Jung gelesen: Traum und Tod. Jetzt kommt auch bei mir allmählich der Grenzübergang.

Es sind also mehr innere Dinge, die Sie sich noch vorgenommen haben?

Müller: Wissen Sie, das ergibt sich. Und wenn es mir hier im Altersheim verleidet, setze ich mich in meinen Jaguar und fahre nach Laax. Aber wie lange ich das noch machen kann, weiss ich nicht. Ich glaube, man muss schauen, dass man mit jedem Tag zufrieden ist.

Wer mehr über Supraleitungen erfahren will: hier unser Artikel über die Hintergründe der Technologie.

Dieses Porträt stammt aus dem Buch «Zürcher Pioniergeist» (2014). Es porträtiert 60 Zürcherinnen und Zürcher, die mit Ideen und Initiative Neues wagten und so Innovationen schufen. Das Buch kann hier bestellt werden.
Diesen Beitrag teilen
Unterstütze uns

regelmässige Spende