Das musst du wissen
- Trotz der Corona-Krise ist die Lebensmittelversorgung in der Schweiz gewährleistet.
- Zu Produktionsausfällen kommt es in Europa aktuell nicht.
- Selbst wenn die Importe wegfallen würden, wäre die Schweiz gut vorbereitet.
Die Schweiz, so scheint es, wird durch die Corona-Pandemie zu einem Land voll Hamstern: Pasta-Regale sind mancherorts kurzfristig leer, das Toilettenpapier arg dezimiert. Bund und Lebensmittelläden betonten mehrmals, dass es genug für alle hat und Hamsterkäufe nicht nötig sind. Der Selbstversorgungsgrad der Schweiz betrug laut Agrarbericht im Jahr 2017 rund 59 Prozent. So viel des inländischen Verbrauches konnte also im Inland produziert werden. Damit ist die Schweiz zwar abhängig von Importen: Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz – auch im Bezug auf Lebensmittelimporte und -exporte. Aber für Notlagen – und in solch einer befinden wir uns aktuell nicht – hat der Bund bereits seit Jahren vorgesorgt. Die Bundesverfassung erteilt der Regierung den Auftrag, die Landesversorgung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen für den Fall «machtpolitischer oder kriegerischer Bedrohungen sowie in schweren Mangellagen, denen die Wirtschaft nicht selbst zu begegnen vermag», sicherzustellen. Deshalb betreibt der Bund sogenannte Pflichtlager, in denen tonnenweise Zucker, Reis, Weizen aber auch Energieträger wie Mineralöl und Erdgas sowie Medikamente gelagert werden.
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Zudem haben Berechnungen von Agroscope, dem Schweizerischen Kompetenzzentrum für landwirtschaftliche Forschung, ergeben, dass sich die Schweiz in Notlagen theoretisch autark ernähren könnte. Die landwirtschaftlichen Flächen der Schweiz könnten die Selbstversorgung der Bevölkerung mit bis zu 2340 Kilokalorien pro Einwohner und Tag erlauben. Dieser Wert liegt zwar unter dem heutigen Konsum von 3015 Kilokalorien, aber oberhalb der meisten Richtwerte der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung von 2300 Kilokalorien täglich.
Science-Check ✓
Studie: An evaluation of Swiss agriculture’s contribution to food security with decision support system for food security strategyKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Autoren berechneten, wie viele Lebensmittel in der Schweiz produziert werden könnten, wenn der Import komplett gestoppt würde. Alles verfügbare Land würde gebaut, Grasland würde zu Acker. In den Berechnungen wurde vorausgesetzt, dass neben dem Land und dem Know-how der Landwirte auch alle sonstigen Ressourcen, die zur Produktion benötigt werden, vorhanden sind. Als importierbar angenommen wurden insbesondere Bruteier für die Geflügelproduktion sowie Vorleistungen wie Dünge- und Pflanzenschutzmittel.Mehr Infos zu dieser Studie...Die Ernährung müsste aber umgestellt werden: Der Konsum von Rinds-, Schweine- und Geflügelfleisch oder Eiern würde dann eine verschwindend kleine Rolle spielen. Dagegen würden deutlich mehr Backwaren und mehr Kartoffeln als heute konsumiert. Der Alkohol- und Obstkonsum würde einbrechen, die fehlenden Gemüseimporte hingegen könnten aufgefangen werden. In diesem Szenario würden alle in der Schweiz verfügbaren landwirtschaftlichen Nutzflächen verwendet, um eine möglichst kalorienreiche Ernährung sicherzustellen.
Professor Sebastian Hess, Leiter des Fachgebiets Agrarmärkte am Institut für Agrarpolitik und Landwirtschaftliche Marktlehre der Universität Hohenheim, hält Lieferengpässe bei Lebensmitteln in Europa für unwahrscheinlich, wie er gegenüber dem deutschen Science Media Center erklärt.
Sebastian Hess
Professor Sebastian Hess ist Leiter des Fachgebiets Agrarmärkte am Institut für Agrarpolitik und Landwirtschaftliche Marktlehre der Universität Hohenheim.
Science Media Center: Herr Hess, stehen wir vor einem Versorgungsengpass mit Lebensmitteln?
Aktuell gibt es verständlicherweise viel psychologische Verunsicherung, aber keinerlei Hinweis auf eine nennenswerte physische Verknappung von Agrarprodukten, da es bisher nirgendwo in Deutschland und Europa zu nennenswerten Produktionsausfällen gekommen ist. Hierbei spielt auch eine Rolle, dass die Landwirtschaft in gemässigten Breiten sehr technisiert ist und mit relativ wenig Arbeitskräften auskommt. Bei arbeitsintensiven Spezialkulturen oder in Ländern, deren Agrarsysteme wesentlich stärker von menschlicher Arbeitskraft abhängen, können Pandemie-bedingte Arbeitsausfälle durchaus auch zu Ertragsausfällen führen. Diese Ertragsausfälle werden dann teilweise erst im Lauf des Jahres 2020 marktwirksam.
Viele Leute legen sich jetzt aber grosse Vorräte an und hamstern. Ist das kein Problem für die Versorgung?
Bei sogenannten Hamsterkäufen in Supermärkten handelt es sich hingegen lediglich um vorgezogene Käufe, aber nicht um eine grundsätzliche Veränderung der Nachfrage. Hier stehen die Wertschöpfungsketten vor dem Problem, kurzfristig Mengen bereitstellen zu müssen, die andernfalls erst im Verlauf der kommenden Wochen abgerufen worden wären. Es ist daher davon auszugehen, dass auf eine Welle von kurzfristig gesteigerter Nachfrage eine Phase folgt, während der die Bestände in den Haushalten abgebaut werden und das Kaufverhalten entsprechend geringer ausfällt.
Könnte die aktuelle Corona-Situation Probleme bei Anbau und Ernte von Ackerkulturen mit sich bringen?
Für viele der wichtigsten pflanzlichen Kulturen wie Getreide und Ölsaaten ist die Aussaat bereits im vergangenen Herbst getätigt worden. Saat- und Pflanzgut für wichtige Frühjahrskulturen – Mais, Zuckerrüben, Kartoffeln – wird durch Landwirte meist vor Beginn der Frühjahrsarbeiten eingelagert. Ähnliches gilt für Dünger und Pflanzenschutzmittel: Diese Betriebsmittel sind zudem aufgrund ihrer guten Lagerfähigkeit nicht auf Just-in-Time Lieferungen ausgelegt und daher durch kurzfristige Verzögerungen im Transport auf Strasse oder Seeweg wenig verwundbar.
Wie sieht es mit den Arbeitskräften aus. Die müssen doch jetzt alle zu Hause bleiben?
Kurzfristig problematisch könnte eine ausbleibende Verfügbarkeit von Saisonarbeitskräften aus Osteuropa werden. Dies betrifft arbeitsintensive Spezialkulturen wie Spargel und Erdbeeren. Aktuell in der Presse diskutierte Versuche, hierfür in Deutschland zum Beispiel vorübergehend unbeschäftigte Deutsche einzusetzen, erinnern an zurückliegende Debatten, als in Zeiten relativ hoher inländischer Arbeitslosigkeit ebenfalls osteuropäische Saisonarbeitskräfte durch Einheimische ersetzt werden sollten. In der Realität ist dies zumeist an drei Faktoren gescheitert. Erstens: Die Saisonarbeit in landwirtschaftlichen Spezialkulturen ist nicht nur körperlich hart, sondern erfordert auch physisches Geschick im Umgang mit empfindlichen Produkten. Viele osteuropäische Saisonarbeiter kommen über Jahre immer wieder zu den Betrieben und sind mit den entsprechenden Arbeitsabläufen vertraut. Zweitens: Saisonarbeit findet häufig in den frühen Morgenstunden auf abgelegenen Feldern in ländlichen Regionen statt. Theoretisch verfügbare deutsche Arbeitnehmer müssten entsprechend mobil sein oder – so wie die osteuropäischen Saisonarbeiter – vorübergehend auf den Höfen wohnen.
Und Drittens: In der Vergangenheit waren die in der Saisonarbeit gezahlten Löhne für osteuropäische Saisonarbeitskräfte auch dadurch attraktiv, dass ein Kaufkraftgefälle zwischen Deutschland und den Heimatländern genutzt werden konnte. Dieser Vorteil entfällt bei deutschen Arbeitskräften.
Und die Nutztierhaltung? Wird sie unter Druck geraten?
Im Bereich der Schlachtung von Rindern und Schafen ist nach gegenwärtigem Stand nicht zu erwarten, dass die vorhandenen Schlachthof-Kapazitäten durch die aktuelle Pandemie-Situation ernstlich infrage stehen. Im Bereich der Geflügel- und Schweineerzeugung steht dies ebenfalls gegenwärtig nicht an. Jedoch sind Haltung der Tiere, Transport und Schlachtung meist wesentlich enger durch Verträge und Zeitpläne aufeinander abgestimmt. Sollten einzelne Schlachtbetriebe tatsächlich vorübergehend schließen oder ihre Kapazität reduzieren müssen, könnte es punktuell zu Engpässen kommen. Dies könnte zu längeren Transportwegen für die Tiere führen, um alternative Schlachtstätten zu erreichen. Im schlimmsten Fall müssten die Tiere getötet werden, ohne dass sie der weiteren Verwertung zugeführt werden können. Aufgrund einer Vielzahl verfügbarer Schlachtstätten erscheint dieses Szenario jedoch aktuell sehr unwahrscheinlich.
Welche Bereiche der Produktionskette von der Landwirtschaft bis hin zum fertigen Lebensmittel sind denn besonders anfällig für Pandemie-bedingte Störungen?
Lieferketten im Nahrungsmittelbereich sind verwundbar durch die hohe Verderblichkeit vieler Agrarprodukte und die damit zusammenhängenden hohen Anforderungen an die Transport- und Verarbeitungslogistik. Jede Einschränkung im Transport kann zum Beispiel zur Unterbrechung von Kühlketten führen oder vorhandene Lagerkapazitäten könnten nicht ausreichen. Für die wichtigsten Agrarprodukte existieren jedoch viele Produktions- und Verarbeitungsstätten an unterschiedlichen Standorten, so dass diese sich substituieren können und kaum die Gefahr von Engpässen droht. Lediglich bei speziellen Verarbeitungsprodukten, die nur in einem oder in wenigen Betrieben hergestellt werden, könnten sich bei Werksschliessungen kurzfristig Engpässe ergeben. Dies betrifft dann meist spezielle Inhaltsstoffe oder Spezialitäten. Jedoch gibt es im Welthandel mit Agrarprodukten bereits Hinweise, dass einige wichtige Importländer bei bestimmten Agrarprodukten vorübergehend weniger importieren werden, und dies kann für exportorientierte Branchen durchaus Preiseinbrüche bedeuten.
Und was passiert, wenn internationale Handelsketten unterbrochen sind?
Je weiter Agrarprodukte weltweit gehandelt werden, umso besser sind sie meist auch lagerfähig, und je lagerfähiger ein Produkt ist, umso leichter lassen sich vorübergehende Verzögerungen im Transport wie beispielsweise durch lange Wartezeiten oder Kontrollen in Häfen ausgleichen.
Sollten wir autarker werden?
In Wirklichkeit sind es gerade die überregional vernetzten Strukturen unserer Agrar-Wertschöpfungsketten, welche diese so leistungsfähig machen und punktuelle Engpässe entsprechend gut ausgleichen können.
Für die Weltmarktlage im Jahr 2020 wird daher weniger die Angebotsseite als die Entwicklung der Nachfrage entscheidend sein: Wird der Import wichtiger Importländer – wie zum Beispiel China – dauerhaft schwächer ausfallen? Wenn ja, könnte dies das Preisniveau für exportorientierte Branchen des deutschen Agrarsektors durchaus negativ beeinflussen.