Das musst du wissen

  • Wenn Forschende fälschen, sind meist die Universitäten und Hochschulen für die Aufklärung des Betruges zuständig.
  • Doch diese stecken in einem Interessenkonflikt zwischen Forschung und Markt und haben wenig Anreiz, Betrug aufzudecken.
  • Das zeigen auch jüngste Skandale, sowohl im Ausland als auch in der Schweiz, etwa an der ETH Zürich.

Julia Tuulik hatte einen Wunsch: Sie wollte ihrem Sohn vor dem Einschlafen etwas vorsingen können. Doch singen konnte sie nicht mehr – die Atemwege der 33-Jährigen Lehrerin und früheren Ballerina waren nach einem Unfall verletzt. So setzte die Russin ihre Hoffnung in Paolo Macchiarini: Der italienische Chirurg hatte als erster künstliche Luftröhren entwickelt und sie scheinbar erfolgreich Patienten eingesetzt.

Damals, im Jahr 2012, war Macchiarini noch ein gefeierter Star-Mediziner. Er tourte durch die Operationssäle der Welt, wurde an Universitäten in Spanien, Italien, Schweden und später Russland hofiert. Seine Idee war denkbar simpel: Er liess massgeschneiderte Luftröhren aus Plastik herstellen, behandelte diese mit Stammzellen aus dem Knochenmark der Patienten. Dann nähte er die Prothesen in die Atemwege der Betroffenen ein, wo sie gesundes, funktionierendes Gewebe bilden sollten.

Heute wissen wir dank der Arbeit von Whistleblowern, Bloggern und Journalisten: Macchiarini hatte seine Transplantationserfolge in wissenschaftlichen Veröffentlichungen stark geschönt und zum Teil klar gefälscht. Sein Verfahren war nur unzureichend an Tieren getestet worden. Und: Das Theoriegebäude auf dem die Anwendung basierte, war äusserst wackelig. Wie gut die Methode tatsächlich funktionierte, zeigte ein Autopsiebericht des ersten Opfers Andemariam Beyene, der 2014 starb. Laut dem Bericht war die Prothese so gut wie gar nicht eingewachsen: «Sie lag lose in der Kehle, umgeben von eitriger Flüssigkeit und totem Gewebe.»

Acht der neun Patientinnen und Patienten, die zwischen 2010 und 2014 von Macchiarini eine Luftröhre aus Plastik bekamen, sind inzwischen tot. Auch Julia Tuulik ging es ab 2012 zunehmend schlechter. In einem Brief an den Produzenten einer Macchiarini-Dokumentation schrieb sie: «Drei Wochen nach der ersten Operation öffnete sich eine eitrige Fistel und seitdem verwest meine Kehle. Ich wiege 47 Kilo. Ich kann kaum laufen. Ich habe Atemprobleme und kann nicht mehr sprechen. Und ich rieche so schlecht, dass Menschen vor mir zurückweichen.»

Institut ignorierte Warnungen

Wie konnte es soweit kommen? Dieser Frage sind Organisationstheoretiker der Linköping Universität in Schweden in einer aktuellen Studie nachgegangen und dabei zu einem vernichtenden Ergebnis gekommen: Das Karolinska Institut (KI), an dem Macchiarini als Gastprofessor angestellt war und an dem er 2011 zum ersten Mal eine künstliche Luftröhre transplantierte, hat nicht nur Warnungen externer Wissenschaftler und interner Whistleblower ignoriert und den Betrug später zu vertuschen versucht. Nein, es hat auch davon profitiert.

So flossen im Jahr 2015 nach Aussagen eines früheren KI-Managers 50 Millionen US-Dollar von einem chinesischen Geschäftsmann an ein KI-Forschungszentrum für regenerative Medizin in Hong Kong. Ausschlaggebend für die grosszügige Spende waren die Reputation Macchiarinis als Pionier sowie eine Erwähnung seines Verfahrens in der Liste medizinischer Durchbrüche im Time Magazine.

«Das Karolinska Institut hatte kein Interesse daran, den Betrug an ihrer Institution aufzudecken», fasst Solmaz Filiz Karabag, Mitautorin der Studie, zusammen. «Hochschulen sind heutzutage global operierende Unternehmen. Sie haben einen Markenwert und ein Markenprofil. Um dieses zu erhalten und zu fördern, folgen sie der Logik eines Marktes», sagt Karabag. Dabei ist die wissenschaftliche Erkenntnis die Ware, deren Wert gemessen wird: Wie viele Auszeichnungen? Wie viele Publikationen? Wie häufig sind diese zitiert? An solchen Indikatoren entscheiden sich ganze Lebensläufe.

Interessenkonflikt der Unis

«Forschungsinstitute haben in der Tat einen Interessenkonflikt», sagt David Shaw, Bioethiker an der Universität Basel. «Auf der einen Seite wollen sie gute Wissenschaft machen, auf der anderen Seite müssten Sie ihre Produktivität ausweisen, was mit Indikatoren gemessen wird.» Und um bei dieser Vermessung gut abzuschneiden, nehmen einige Forschende eine Abkürzung und die Uni schaut nicht so genau hin. Eine Win-win-Situation. Die Verlierer dabei sind die ehrlichen Forschenden und diejenigen, die sich auf die Forschung verlassen.
Wie also lässt sich der drohende Vertrauensverlust aufhalten? Eine unabhängige Institution, die Betrug entdecken könnte, gibt es in den meisten Ländern nicht. Auch in der Schweiz sind es die einzelnen Universitäten und Hochschulen, die die Verantwortung dafür tragen, Betrug zu verhindern und zu ahnden. Aber sind sie angesichts ihres Interessenkonflikts die richtigen für den Job?

Das darf man in Anbetracht aktueller Fälle im In- und Ausland anzweifeln. So wurden zwar zahlreiche Fachartikel des Wirtschaftswissenschaftlers Ulrich Lichtenthaler zurückgezogen und ihm wurde die Lehrerlaubnis entzogen. Konsequenzen seiner damaligen Universität in Mannheim musste er jedoch nicht fürchten. Im Gegenteil, 2018 wurde er zum Professor für Unternehmen und Entrepreneurship an der International School of Management in Köln ernannt.

Fehlverhalten auch an Schweizer Hochschule

In der Schweiz wurden im Jahr 2015 Unregelmässigkeiten in Fachartikeln des Biologen Olivier Voinnet von der ETH Zürich publik. Das französische Elite-Institut CNRS, bei dem der Forscher gleichzeitig eine Professur innehatte, untersuchte dies und kam zum Schluss, dass Daten vorsätzlich manipuliert wurden. Für die Franzosen war das wissenschaftliches Fehlverhalten. Sie suspendierten Voinnet für zwei Jahre. Der Schweizerische Nationalfonds stellte seine Zahlungen an den Forscher ein. Drei Jahre durfte er keine Anträge auf Förderung mehr stellen. Ein wichtiger europäischer Wissenschaftspreis wurde dem Forscher aberkannt. Seither mussten Voinnet und seine Kollegen acht Veröffentlichungen zurückziehen und mehr als 20 Korrekturen nachreichen.

Oliver Voinnet, Biologieprofessor an der ETH Zürich.ETH

Oliver Voinnet, Biologieprofessor an der ETH Zürich.

Auch die ETH Zürich untersuchte Voinnet, kam aber zu einem vergleichsweise milden Urteil: Es wurden zwar Daten manipuliert, allerdings sei das aus Fahrlässigkeit passiert, und es habe nicht die wissenschaftlichen Schlussfolgerungen verändert. Man könne ihm kein wissenschaftliches Fehlverhalten vorwerfen. Voinnet kam mit einer Verwarnung und Sanktionen davon. Diese Entscheidung kritisierten Wissenschaftler aus aller Welt, der Fall wurde unter anderem als ethischer Bankrott akademischer Eliten bezeichnet.

Das Urteil der ETH sei befremdlich, sagt auch Bioethiker Shaw: «Selbst wenn viele seiner Schlussfolgerungen korrekt sind, die manipulierten Veröffentlichungen haben Leuten zu Jobs und Fördergeldern verholfen. So etwas ist ungerecht und unethisch.»

Und damit ist der Fall nicht abgeschlossen. Erst letzte Woche wurde eine neue Untersuchung der damaligen Publikationen – geführt vom CNRS mit Beteiligung der ETH Zürich – publik. Diese kam zum Schluss, dass in einigen der untersuchten Publikationen auch bewusst manipuliert worden war. Diese Manipulationen hatte offenbar ein Mitarbeiter vorgenommen. Doch weil Voinnet diese Manipulationen weder selbst ausgeführt noch toleriert hatte, bleibe er weiterhin Professor an der ETH, so die Hochschule. Seine Verwarnung aus dem Jahr 2015 wird für fünf Jahre verlängert, andere Sanktionen laufen nun bis 2020.

Unabhängiges Kontrollorgan gefordert

«Universitäten und Hochschulen sind nicht die Richtigen, um Betrug an ihren Institutionen zu verhindern und zu ahnden», schlussfolgert Solmaz Filiz Karabag, die den Fall Macchiarini in Schweden untersucht hatte. Sie fordert eine Art Anti-Doping Agentur für die Wissenschaft: ein übernationales, unabhängiges Kontrollorgan, das über das Verhalten von Forschenden wacht.

Anders sieht das der Schweizerische Nationalfonds (SNF), der im Auftrag des Bundes Fördergelder vergibt. Für ein Kontrollorgan sähe man derzeit keinen Bedarf, sagt Nadja Capus, Leiterin der Kommission für wissenschaftliche Integrität des SNF. Aber: «Es ist sicher so dass wissenschaftliches Fehlverhalten auch ein systematisches Problem ist und dass viele Institute falsche Anreize setzen», sagt Capus. Der SNF versuche, diesen falschen Anreizen entgegenzusteuern. Zum Beispiel, indem er die 2012 in den USA initiierte DORA-Deklaration unterschrieben hat. Ihre Unterzeichner bekennen sich dazu, bei der Bewertung von Forschung mehr auf Inhalt und weniger auf messbare Indikatoren und Zitationsmetrik zu schauen. Diese Deklaration hat auch die ETH 2016 unterzeichnet und 2018 ausserdem eine Kommission für gute wissenschaftliche Praxis eingesetzt, um das Bewusstsein für korrektes wissenschaftliches Arbeiten zu fördern.

Das sind wichtige Schritte dahin, die Verlockung für Betrug abzuschaffen. Denn es geht nicht nur um Unis und Forschende. Ein wissenschaftlicher Betrug hat immer einen Preis. Diesen Preis bezahlt die Gesellschaft, in dem sie ihre Politik, ihre Richtlinien, ihre Zukunftsziele an gefälschten Resultaten ausrichtet. Und im schlimmsten Fall bezahlen Menschen mit ihrem Leben. So wie Julia Tuulik. Ihr Wunsch, ihrem Sohn ein Wiegenlied vorzusingen, blieb ihr verwehrt. Sie starb 2014 an den Folgen ihrer künstlichen Luftröhre.

Sammlung von Betrugsfällen neuerer Zeit: retractionwatch.com
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