Hirnzellen, die bei einem Schlaganfall absterben, sind für immer verloren. Ebenso die Zellen, die durch die Parkinson-Krankheit und andere neurodegenerative Leiden vernichtet werden. Die im Gehirn entstandenen Lücken lassen sich nicht einfach stopfen wie ein Loch in der Socke. Thomas Braschler, Materialwissenschaftler von der Universität Genf, verfolgt aber einen ähnlichen Ansatz. Er hat ein neuartiges Gel entwickelt, das er in Form von dünnen Fäden in zerstörte Hirnareale spritzen will. Das Material wird vorher mit Nervenzellen bestückt, die abgestorbenes Gewebe ersetzen, neue Verbindungen knüpfen und Botenstoffe produzieren sollen.

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Drei Jahre lang tüftelten Braschler und sein Team daran, das geeignete Trägermaterial zu finden, mit dem sich Ersatzzellen punktgenau und unbeschädigt ins Hirn transportieren lassen: «Es ist nicht so einfach, Nervenzellen zu implantieren, denn sie haben lange Fortsätze, die leicht abreissen», so Braschler. «Dieses Problem haben wir nun weitgehend gelöst.»

Er wollte seiner Urgrossmutter helfen

Den Traum, das Hirn zu flicken, hat Thomas Braschler schon lange. Der Materialwissenschaftler am Institut für Pathologie und Immunologie der Universität Genf hat als kleiner Bub miterlebt, wie seine Urgrossmutter nach einem Hirnschlag jahrelang bewegungslos und fast stumm im Bett lag: «Das war ein grosses Unglück. Ich habe gedacht, das kann doch nicht sein, dass man da gar nichts machen kann.» Rückblickend hat ihn seitdem sein ganzer Werdegang auf sein aktuelles Projekt vorbereitet: Schon als Schüler betrieb er im Elternhaus ein eigenes Chemielabor und kassierte Gold- und Silbermedaillen bei Wissenschaftsolympiaden. Nach dem Biologiestudium absolvierte er ein Doktorat in Mikrotechnologie und arbeitete später an der Entwicklung von Impfstoffen gegen Krebs. Jetzt ist er in die Rolle eines Ingenieurs und Materialwissenschaftlers geschlüpft.

Die von ihm entwickelten Neurofäden sind etwa einen halben Zentimeter lang und etwa so dick wie Nähgarn. Das schwammähnliche Gel basiert auf Zellulose und wird bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt hergestellt. Im Inneren hohl, bilden die Fäden ein stabiles Gerüst für die Ansiedlung von Nervenzellen. Gleichzeitig ist das Material elastisch und weich, sodass es sich zusammendrücken und durch eine Spritze pressen lässt. Die Ergebnisse der ersten Experimente sind ermutigend: Die fragilen Nervenzellen überstehen, in dieses Gerüst eingebettet, nicht nur die Injektion in ein Mäusehirn, sondern bleiben danach auch noch mindestens einen Monat lang am Leben.

Kein Kontakt zwischen Zellen

Die Idee, ein solches Trägermaterial zu entwickeln, ist nicht neu. «Leider hat sich die Hoffnung, dass solche Implantate helfen, das Nervengewebe zu rekonstruieren, bis jetzt in den allerwenigsten Fällen erfüllt », sagt Martin E. Schwab, Professor für Hirnforschung am Institut für Regenerative Medizin der Universität Zürich. Er selbst hat schon mit den verschiedensten Materialien zur Überbrückung von Rückenmarksverletzungen und Schlaganfällen experimentiert: «Das zentrale Nervensystem integriert Implantate nur sehr ungern und sehr schlecht.» So käme es oft zu Entzündungsprozessen, wodurch das Material abgebaut oder eingekapselt werde.

Braschler räumt ein, dass solche adversen Reaktionen auf jeden Fall in gross angelegten Studien abgeklärt werden müssen. In kleinen Testreihen beobachtet er jedoch bisher keine nennenswerte Einkapselung. Und ein Abbau des Materials ist sogar erwünscht – allerdings erst, wenn sich die Nervenzellen in das umgebende Gewebe integriert haben.

«Die Idee, ein Stück der Grosshirnrinde zu rekonstruieren, ist sehr mutig.»Martin E. Schwab, Professor für Hirnforschung

Aber Schwab ist auch aus anderen Gründen skeptisch: «Die Idee, ein Stück der Grosshirnrinde zu rekonstruieren, ist sehr mutig.» Denn die implantierten Nervenzellen müssten nicht nur überleben, sondern auch mit den Hirnzellen in der Umgebung sinnvolle Verbindungen aufbauen. «Wenn ein Stück Grosshirnrinde fehlt, das etwa einen Arm oder die Sprache steuert, dann reicht es nicht, einfach ein paar Millionen Zellen zu injizieren. Denn die wissen ja nicht, was sie tun müssen.» Tatsächlich hat Braschler bis jetzt noch nicht nachgewiesen, dass die eingespritzten Nervenzellen tatsächlich Kontakt mit benachbarten Hirnzellen aufnehmen. Erste entsprechende Experimente laufen schon.

Auch bei der Wahl der Nervenzellen, die er transplantiert, geht Braschler neue Wege: Durch eine spezielle Behandlung wandelt er embryonale Stammzellen direkt innerhalb der Neurofäden in ausgereifte Nervenzellen um, die den Botenstoff Dopamin herstellen. Braschler glaubt, dass die Implantation solcher Zellen besonders Parkinson-Patienten helfen könnte. Denn der Mangel an Dopamin im Hirn führt zu den für diese Krankheit typischen motorischen Störungen und weiteren Symptomen.

Tumore könnten entstehen

Diese Idee findet der Parkinson-Experte Hans Rudolf Widmer grundsätzlich nicht schlecht. Als Professor für Neurowissenschaften leitet er das Forschungslabor der Universitätsklinik für Neurochirurgie des Inselspitals Bern. Er beschäftigt sich seit über 25 Jahren mit der Möglichkeit, die Parkinson-Krankheit durch Transplantation von Hirnzellen zu therapieren: Obwohl vielversprechend, seien solche Ansätze aber noch weit von einer Anwendung in Patienten entfernt und mit vielen Schwierigkeiten behaftet. So verwenden viele Forschende embryonale Stammzellen für die Transplantation – doch besteht die Gefahr, dass diese sich im Gehirn unkontrolliert vermehren und so Tumore bilden.

«Dieses Problem umschifft Braschler dadurch, dass er erwachsene Nervenzellen verwendet. Allerdings ergibt sich dadurch ein anderes grosses Problem, nämlich dass diese durch das Immunsystem abgestossen werden», so Widmer. Er weist darauf hin, dass Braschler seine Experimente bis jetzt nur in Mäusen mit einem unterdrückten Immunsystem durchgeführt hat, bei denen keine Abstossung stattfinden kann.

Doch auch hierfür hat Braschler schon eine mögliche Lösung in Sicht: Gemäss ersten experimentellen Tests werden körpereigene Zellen in Braschlers System nicht abgestossen. Im Moment versuchen viele Forschungsgruppen solche herzustellen. Dopaminproduzierende Nervenzellen sollen statt aus embryonalen Stammzellen aus körpereigenen Zellen der Patientinnen hergestellt werden. So kann es später zu keiner Immunreaktion kommen.

«Gegen die Parkinson-Krankheit gibt es nur Behandlungen, die über die Jahre hinweg oft zu schweren Nebenwirkungen führen.»Hans Rudolf Widmer, Parkinson-Experte

Widmer betrachtet die Ergebnisse von Braschler auch aus anderen Gründen noch als sehr vorläufig. So fehlt auch ihm der Nachweis, dass die Nervenzellen im Hirn Ausläufer bilden. Ausserdem wurden die Neurofäden noch nicht in speziellen Mäusen getestet, die die Parkinson-Krankheit simulieren. Trotz seiner Skepsis findet es Widmer gut, nach innovativen Therapien gegen die Parkinson-Krankheit zu suchen: «Sie betrifft viele Menschen, und es gibt keine Heilung. Es gibt nur Behandlungen, die aber über die Jahre hinweg oft zu schweren Nebenwirkungen führen.»

Braschler ist sich sehr wohl bewusst, dass viele sein Konzept als utopisch ansehen: «Aber es ist wichtig, dass man überhaupt etwas anstrebt. Und wenn es sich ergibt, kann man auch vielversprechende Seitenwege einschlagen.» So entstand beispielsweise ein Biotech-Start -up aus der Idee, das Gel auch für andere medizinische Zwecke einzusetzen – etwa um durch die Entfernung von Tumoren verloren gegangenes Fett- und Bindegewebe zu ersetzen. Denn: «Es ist wie mit dem Nordstern. Auch wenn man ihn anstrebt, wird man ihn nie erreichen. Und trotzdem orientiert er unsere Schritte in die richtige Richtung.»

Horizonte Magazin

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