Eben spielte der sechsjährige Hilmir noch mit seinen Lego-Steinen, doch nun hat er sich auf dem Teppich ausgestreckt und starrt regungslos vor sich hin. Als sein Vater Omar Halldorsson ihn ruft, richtet sich der Junge langsam auf und schaut Papa mit grossen Augen an, als sei er gerade aus einem Traum erwacht. «Das ist ein typisches Verhalten», sagt Halldorsson. «Würde ich nichts sagen, bliebe Hilmir stundenlang so liegen.»
Der Junge leidet an frühkindlichem Autismus, einer tief greifenden Entwicklungsstörung. Betroffene Kinder haben Defizite im Sozialverhalten, beim Lernen und bei der Kommunikation. Sie zeigen oft ein monotones Spielverhalten und können sich beispielsweise stundenlang damit beschäftigen, an den Rädern eines Spielzeugautos zu drehen. Sie interessieren sich wenig für andere Kinder. Der Umgang mit Menschen überfordert sie, weil sie die Gefühle anderer nur schwer erkennen und interpretieren können. Auch lernen viele autistische Kinder nicht oder nur verzögert sprechen.
Fortschritte dank Intensivtherapie
Das war auch bei Hilmir so: Er vermied Augenkontakt, selbst mit seinen Eltern, und begann erst mit vier Jahren einzelne Wörter zu sprechen. Dass er heute offen auf Fremde zugeht und sich in Sätzen mit mehreren Wörtern ausdrücken kann, verdankt er einer frühen intensiven Verhaltenstherapie. Eine solche Therapie bietet zum Beispiel das Autismuszentrum des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes (KJPD) in Zürich an. Dabei arbeiten geschulte Fachleute und Eltern 25 bis 30 Stunden pro Woche mit dem Kind, um grundlegende Verhaltensweisen und kommunikative Fähigkeiten zu trainieren. Beispielsweise fordert die Therapeutin das Kind spielerisch dazu auf, Blickkontakt zu halten, sie nachzuahmen oder gemeinsam etwas zu spielen. Macht es mit, wird es belohnt, zunächst mit Süssigkeiten, später mit Lob, bis es das Verhalten selbstständig zeigt.
Intensive Verhaltenstherapien sind in den USA und verschiedenen europäischen Ländern schon Standard. In der Schweiz bieten dies hingegen erst sechs Zentren an, zwei davon in Genf. «Entscheidend ist, dass ein Kind so früh wie möglich behandelt wird», sagt Stephan Eliez, Leiter der Zentren und Autismusforscher an der Universität Genf. Am wirksamsten ist die Therapie, wenn sie vor dem zweiten oder dritten Lebensjahr beginnt, weil das Gehirn dann noch stark formbar ist. Studien belegen, dass sich neben den sozialen und sprachlichen auch die geistigen Fähigkeiten massiv verbessern können. So schneiden behandelte Kinder in Intelligenztests bis zu 20 Punkte besser ab als Kinder ohne Behandlung. «Das kann den Sprung von der Sonder- auf die Regelschule bedeuten», sagt Eliez. Und auch, ob jemand später auf Betreuung angewiesen ist oder ein selbstständiges Leben führen kann – ein entscheidender Unterschied.
Neue Methode soll Diagnosen erleichtern
Damit Kinder von einer Intensivtherapie profitieren können, muss die autistische Störung auch früh genug erkannt werden. Doch genau das ist oft nicht der Fall: Manchmal dauert es Jahre, bis ein Arzt die Diagnose stellt. Das war auch bei Hilmir so. Zwar zeigte er schon mit 16 Monaten eine verzögerte Entwicklung, aber die Ursache blieb unklar. Nachdem die Familie von Island in die Schweiz gezogen war, bekam der Junge logopädische und sonderpädagogische Betreuung. «Von Autismus sprach aber niemand», sagt Vater Halldorsson. Er und seine Frau suchten bessere Therapiemöglichkeiten und fanden schliesslich zum KJPD Zürich. Dort stellte der leitende Arzt Anfang 2013 erstmals die Diagnose Autismus. Zu dem Zeitpunkt war Hilmir drei Jahre alt.
Bei vielen Betroffenen erfolgt die Diagnose noch später, oft erst mit fünf oder sechs Jahren. Ein Grund dafür ist, dass Autismus keine einheitliche Störung, sondern bei jedem Kind anders ausgeprägt ist (siehe Infobox). Zudem fehlen diagnostische Hilfsmittel. Bisher müssen Kinderärzte und -psychiater sich auf ihre Beobachtungen verlassen und die Eltern befragen. «Es gibt noch keine Methode, um Autismus zu messen», sagt Marie Schaer, Psychiaterin und Forscherin an der Universität Genf.
Doch das soll sich nun ändern: Schaer und ihr Team arbeiten an einem Verfahren, mit dem sich eine autistische Störung schon sehr früh messen lassen könnte. Dazu nutzen die Forschenden das unterschiedliche Blickverhalten von autistischen und gesunden Kindern. «Normalerweise beobachten schon Säuglinge mit Vorliebe andere Menschen», sagt Schaer. Autisten sind hingegen fasziniert von Objekten.
Diesen Unterschied kann man mithilfe des sogenannten Eye Tracking feststellen. Dabei erfasst ein Gerät mittels Infrarotstrahlen die Augenbewegungen und die Blickrichtung einer Person. Seit 2012 führt Schaer eine Studie mit insgesamt 100 autistischen und gesunden Kindern durch. Die Zwei- bis Vierjährigen schauen sich kurze Filmsequenzen an, in denen beispielsweise auf der einen Seite ein tanzendes Kind zu sehen ist. Auf der anderen Seite bewegen sich geometrische Figuren. Die Ergebnisse zeigen, dass gesunde Kinder messbar länger auf das tanzende Kind schauen, bei kleinen Autisten bleibt der Blick länger an den Objekten haften. «Diese Unterschiede lassen sich für die Diagnose nutzen», sagt Schaer. Ziel sei, die Methode bereits im Alter von eineinhalb Jahren oder noch früher einzusetzen. «Das Ganze ist zwar erst in der Versuchsphase», sagt Schaer. «Aber Eye Tracking könnte man jetzt schon einsetzen, um klassische Diagnosemethoden wie Fragebögen oder Tests zu ergänzen.»
Teils grosse Lücken in der Versorgung
Nicht nur bei der Früherkennung, sondern auch bei der Behandlung bestehen in der Praxis noch immer Defizite. In Genf bekommt beispielsweise nur die Hälfte der betroffenen Kinder einen Platz in einem der Behandlungszentren. In vielen anderen Regionen sieht es noch schlechter aus.
Ein grosses Problem sind auch die Kosten. Eine zweijährige Behandlung kostet etwa 160’000 Franken, die Invalidenversicherung zahlt jedoch nur 45’000 Franken pro Kind. Die Differenz übernehmen häufig Vereine, die Kantone oder die Familien selbst.
Auch Hilmirs Eltern bringen jährlich bis zu 30’000 Franken auf, um die Behandlungskosten zu decken – eine grosse finanzielle Belastung. Besonders, da nur Hilmirs Mutter arbeitet. Der Vater hat seinen Beruf in der Finanzbranche aufgegeben, um seinen Sohn zu Hause zu betreuen. «Wir versuchen alles, damit Hilmir die besten Entwicklungschancen bekommt», sagt er. Um das auch anderen Familien zu ermöglichen, engagiert sich Halldorsson im Verein «Perspektiven», der Spenden für das Autismuszentrum in Zürich sammelt. «Es darf nicht vom Geld abhängen, ob ein Kind die Therapie bekommt, die es braucht.»
Autismus – Unterschiedliche Formen
Etwa eines von 100 Kindern ist von einer sogenannten Autismus-Spektrum-Störung betroffen. Dazu zählen verschiedene Formen des Autismus wie frühkindlicher Autismus, das Aspergersyndrom und der atypische Autismus. Bei allen Formen haben Betroffene Probleme mit sozialen Interaktionen. Kinder mit Aspergersyndrom sind normal bis überdurchschnittlich intelligent, Kinder mit frühkindlichem Autismus hingegen oft geistig behindert. Der atypische Autismus bezeichnet eine Mischform. Die Ursachen der Störungen sind bisher nicht vollständig geklärt, jedoch teils genetischer Natur.