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Katja Rost, die Leute feinden sich wegen der Corona-Massnahmen in den sozialen Medien an. Man spricht sogar von «Hass im Netz». Was ist mit uns geschehen über die Zeit des Lockdowns?

Den Hass im gesellschaftlichen Netz gab es schon vor dem Lockdown. Früher wurde man auf dem Scheiterhaufen verbrannt, heute geschieht das im Internet. Aber der Lockdown bietet sich besonders stark für Hass im Netz an, weil es sehr unterschiedliche moralische oder normative Auffassungen gibt, was richtig oder falsch ist. Das lädt dazu ein, sich im Internet zu Gruppen zusammenzutun, die sehr stark miteinander verfeindet sind. Das geht im Internet viel schneller als in der realen Welt.

Aber warum wird es im Internet so schnell so gehässig?

Im Internet sehen wir uns nicht, wir hören uns nicht. Die Gestik fehlt, die Mimik fehlt. Wenn ich Sie zum Beispiel angreife, kann ich danach einfach den PC zuklappen und muss mir nicht anhören, was Sie drauf zu sagen haben. Ich kann quasi vor der Reaktion fliehen und muss mich nicht so stark mit jemandem auseinandersetzen. Tue ich jemanden weh? Bringt sich jemand danach um, oder verliert vielleicht seinen Job? Das sind alles sehr abstrakte Sachen, die im Internet sozusagen keine Rolle spielen.

Es ist wichtig, Zivilcourage zu zeigen. Es braucht Personen, die Fakten klarstellen, die sich einmischen.

Wir erleben das bei higgs ja auch, weil wir uns den Fakten verpflichtet fühlen. Da gibt es immer Leute, die uns ziemlich anfeinden. In meiner Wahrnehmung ist es gar nicht möglich, mit diesen Leuten auf einer faktischen Ebene umzugehen. Entweder sie wechseln einfach das Thema, oder ziehen sich zurück, nachdem sie einem so richtig ans Bein gepinkelt haben. Bin ich naiv, wenn ich glaube, dass ich da faktisch argumentieren soll?

Meiner Meinung nach, ja. Es gab lange diese Illusion: Gegenrede hilft. Heute muss man sagen: Am meisten hilft, einen Shitstorm nicht weiter zu entfachen, ihn einfach über sich ergehen zu lassen. Man ist dem dann ausgeliefert, das ist schlimm. Aber wenn man versucht, sich zu wehren, wird es noch schlimmer. Denn: Was die Leute motiviert, sind nicht Fakten, sondern es geht um Weltanschauungen. Die Leute fühlen sich im Recht. Und sie haben ganz viele Befürworter aus ihren Gruppen. Allerdings müssen wir nicht ins Internet, um das zu sehen. Wir wissen: Gleich und gleich gesellt sich gern. So bekommt man keinen Widerspruch.

Aber im Netz sind auch stumme Zuhörer, die alles mitverfolgen und allenfalls durch Fakten beeinflussbar sind. Lohnt es sich da nicht doch, Widerspruch zu leisten?

Es ist wichtig, Zivilcourage zu zeigen. Es braucht Personen, die Fakten klarstellen, die sich einmischen. Ich denke aber, der Erfolg ist relativ gering, gemessen am Effekt, den man zum Beispiel in traditionellen Medien hätte – wenn die sich einschalten würden. Traditionelle Medien sind gefragt, Zivilcourage zu zeigen. Aber Sie haben ja nach den stummen Zuhörern in den sozialen Medien gefragt. Die gibt es im Netz weniger, das sind wie gesagt Echokammern von Leuten, die ihre Meinung bestätigt sehen wollen. Mit Gegenargumenten laufen Sie da ins Leere. Bei diversem Publikum wie in den Massenmedien hingegen nicht.

Katja Rost

Katja Rost ist ordentliche Professorin für Soziologie an der Universität Zürich. Ihre Schwerpunkte sind Wirtschafts- und Organisationssoziologie, digitale Soziologie‚ soziale Netzwerke‚ und Diversität. Sie erforscht unter anderem, was Menschen dazu bringt, Hassmails zu schreiben, Andersdenkende anzupöbeln und eigene Bedürfnisse über alles zu stellen. Sie studierte Soziologie an der Universität Leipzig, promovierte in Wirtschaftswissenschaften an der TU Berlin und habilitierte an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich.

Sind sie selbst auch schon unter Druck gekommen?

Einen Shitstorm habe ich noch nicht erlebt. Aber ich hatte schon oft Angst, dass mich einer trifft. Deswegen konnte ich auch schon nicht schlafen. Doch ich kenne Einige aus meinem Umfeld, die das schon extrem viel gekostet hat.

Meiden Sie bewusst Stellungnahmen, die Ihnen einen Shitstorm eintragen könnten?

Gewisse Themen sind extrem heikel. Zum Beispiel politische Weltanschauungen. Aber ich bin ja Soziologin, muss mich ja nicht politisch äussern. Bei anderen Themen hingegen ist Schweigen der falsche Weg für die Wissenschaft. Wir sollten uns nicht kleinkriegen lassen. Ich ziehe den Vergleich zum Dritten Reich: Wie ist das dort passiert, dass man sich irgendwann nicht mehr getraut hat, die Meinung zu sagen? Es ist eine extreme Gewalt, der wir gegenüberstehen, gegenüber der wir quasi ohnmächtig sind. Das spüren heute auch Medienschaffende. Zu Hass und Journalismus haben wir eine Studie gemacht: Vor allem Journalistinnen äussern sich zu gewissen Themen nicht mehr, um diesem Hass zu entgehen.

Das Schlimmste, was jemandem in einer öffentlichen Position passieren kann, ist, die Reputation und Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Also bringt es den Gegnern etwas. Sie haben diese Leute ruhig gekriegt.

Auf jeden Fall.

Man könnte argumentieren, das Internet ist der virtuelle Raum, gefährlich wird es erst, wenn die Anfeindungen in die reale Welt überschwappen. In Deutschland wurden nun Kamerateams angegriffen. Bis jetzt war das in der Schweiz noch kaum ein Phänomen. Aber kürzlich musste Daniel Koch in Zürich Reissaus nehmen, weil die Corona-Rebellen ihn nicht mehr zu Wort kommen liessen. Kommt der Hass zunehmend in die reale Welt?

Ja, aber das beobachten wir schon lange. Das Schlimmste, was jemandem in einer öffentlichen Position passieren kann, ist, die Reputation und Glaubwürdigkeit zu verlieren. Genau da setzen Shitstorms an. Da bringt es dann auch nichts, wenn am Ende herauskommt, dass das alles nur Verleumdungen waren. Die Karrieren sind dahin, zum Teil bringen sich die Leute auch um.

Die Leute sind unzufrieden mit irgendwas. Corona hat das nur noch verschärft.

Eines dünkt mich ein Widerspruch: Am Anfang des Lockdowns war die Gesellschaft mehrheitlich diszipliniert, dann kamen die Lockerung der Massnahmen und fast gleichzeitig begannen die Proteste.

Das kommt vom Schock. Unter Schock ist der Mensch in der Lage, erstmal zusammenzuhalten. Da sind selbst diejenigen solidarisch, die sonst gegen alles sind. Es ist eine Zwangssolidarität.

Aber da stehen doch sehr unterschiedliche Gruppierungen Seite an Seite: die sanfte anthroposophische Impfgegnerin und der glatzköpfige Rechtsradikale. Wie passiert so was?

Das ist möglich, wenn es eben um unsere nackte Existenz geht, wenn alle im gleichen Boot sitzen. Vor acht Jahren haben wir eine Untersuchung gemacht zu Shitstorms. Die kommen häufig von Impfgegnern, also auch schon damals. Häufig kommen sie auch aus dem Bereich des Tierschutzes oder des Klimawandels. Das sind die Themen, die die Leute bewegen. Wenn dann aber die Unsicherheit nicht mehr so gross ist, wenn es um Verteilungskämpfe geht, wer kriegt zum Beispiel wie viel vom Staat gesprochen, dann kommen die Unterschiede wieder sehr stark zum Tragen.

Ich finde es auch gut, dass diese Unzufriedenheit jetzt in den Mittelpunkt gerückt ist. Es zeigt, dass was falsch läuft.

Also wird die Koalition der Corona-Skeptiker wieder zerbrechen?

Auf jeden Fall. Im Endeffekt ist sich jeder selbst am nächsten. Das ist dann wieder der politische Machtkampf, den wir vor dem Lockdown auch hatten.

Aber die gemeinsamen Proteste sind schon neu, oder?

Die Proteste sind neu, aber nicht, dass es solche Leute gibt. Dass es dann zu Shitstorms kommt, zu einer Verrohung der Sprache und des Umgangs insgesamt, das kommt ja nicht einfach so. Die Leute sind unzufrieden mit irgendwas. Corona hat das nur noch verschärft. Ich finde es auch gut, dass diese Unzufriedenheit jetzt in den Mittelpunkt gerückt ist. Es zeigt, dass was falsch läuft. Dass sich da was anbahnt in Gesellschaften, erzähle ich übrigens in meinen Vorlesungen schon seit Jahren.

Damit Organisationen effizient laufen, mit Krisen gut umgehen können, braucht es Vertrauen.

Wenn wir Länder anschauen, wo Personen an der Spitze stehen, die zwar demokratisch gewählt sind, aber einen absolutistischen Anspruch haben – wie zum Beispiel Trump – dann sehen wir, dass diese Länder mehr Mühe haben mit der Corona-Krise. Warum das?

Was man braucht, ist Rückhalt in der Bevölkerung. Was ist ein Staat? Das ist eine grosse Organisation. Damit Organisationen effizient laufen, mit Krisen gut umgehen können, braucht es Vertrauen. Wenn aber eine Person alles entscheidet, sind viele Konflikte abzusehen. Die Schweiz hat da super reagiert, muss man sagen.

Ist also auch soziale Ungleichheit ein Grund, weshalb die USA die Pandemie so schlecht bewältigt?

Auf jeden Fall. Die USA sind heute das sozial ungleichste Land unter den hochentwickelten Ländern. Die soziale Verteilung ist auf einem Stand, wie wir sie in Europa im 19. Jahrhundert hatten. Die soziale Mobilität, also die Chance, in eine höhere Schicht aufzusteigen, ist heute in den USA quasi null. Vom Tellerwäscher zum Millionär ist ein Mythos. Nur schon wer an einer einigermassen vernünftigen Universität studieren will, braucht wohlhabende Eltern.

Katja Rost sitzt links mit einer weissen Hose und einem schwarzen Oberteil. Beat Glogger sitzt rechts in einem grauen Anzug.Leon Riener

Katja Rost und Beat Glogger im Talk «Wissenschaft Persönlich» über Hass im Netz und gesellschaftliche Spaltung.

Zurück zur Schweiz: Vor drei Monaten waren hier gemäss Umfragen 45 Prozent der Leute zufrieden mit den Massnahmen. Heute sind es 51 Prozent. Die generelle Zufriedenheit steigt also. Wenn ich aber in die Medien schaue, habe ich das Gefühl, die Unzufriedenheit explodiert.

Was verkaufen Medien denn am besten? Negativmeldungen. Und das ist ein Problem, weil die Realität nicht wiedergegeben wird.

Sollten die Medien Corona-Skeptikern gar keine Plattform bieten?

Das wäre das Beste. Ich ziehe jetzt mal bewusst eine Parallele: Es gibt viel Forschung zur Rolle der Medien im Umgang mit Terrorismus. Der Terrorismus hat real abgenommen – zumindest in Europa. Wir haben aber alle das Gefühl, der Terrorismus wird immer schlimmer. Und woran liegt das? An den Medien. Sie spielen eine doppelte Rolle: Sie verkaufen die Schreckensmeldung jedes Terroraktes – und machen damit Auflage. Damit geben sie Terroristen eine Plattform: Diese erscheinen in den Medien und haben erst dadurch eine Wirkung. Terrorismus ist eine psychologische Kampftaktik, um Gesellschaften und Leute zu verunsichern – und dafür braucht es die Massenmedien. Gäbe die Massenmedien dem Terrorismus keinen Raum, hätten wir viel weniger Terrorismus. Hier hätten die Medien eine Verantwortung.

Sie beschäftigen sich nicht nur mit Hass in den Medien, sondern auch mit Organisationsformen. Dabei nennen Sie als positives Beispiel Klöster. Was ist an Klöstern denn so vorbildlich?

Klöster sind die ältesten Organisationen, die es überhaupt gibt – viel älter als etwa Familienunternehmen. Ein Kloster wird im Durchschnitt 500 bis 600 Jahre alt, das ist immens. Unternehmen überleben vielleicht 50 Jahre, wenn sie Glück haben. Klöster sind sehr demokratische Organisationen und auch innovative. Denken Sie an Heizungs- oder Sanitär-Technologien, Weinbau, Bierbrauerei, Medikamente, das kommt alles aus Klöstern. Und, was für uns Organisationsforscher das Interessanteste ist: Klöster waren die Vorläufer der heutigen Unternehmen, denn auch die Arbeitsteilung wurde im Kloster erfunden.

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Was lernen wir daraus?

Von Klöstern könnten zum Beispiel einige Aktiengesellschaften heute noch was lernen. Wir kennen ja aktuelle Beispiele von Bilanz-Skandalen. Die liegen häufig im Versagen der so genannten Corporate-Governance – also ein Kontrollversagen. Natürlich gab es das auch in Klöstern – wenn die 1500 Jahre leben, können Sie sich vorstellen, wie oft da Missbrauch vorkommt. Mönche hatten Frauen und Kinder oder haben das Geld des Klosters verprasst. Aber die Frage ist: Wie haben diese Organisationen das in den Griff gekriegt? Denn, hätten die das nicht in den Griff gekriegt, dann wären sie ausgestorben.

Das Rezept war wohl Unterdrückung?

Nein, die haben sehr ausgewiefte, demokratische Instrumente entwickelt. Ein Beispiel: Klöster wählen ihren CEO, also den Abt, demokratisch. Der wird durch den Konvent, also quasi durch die Mitarbeiter, gewählt. Das fordern wir in der Organisationsforschung schon seit langem, gerade für Aktiengesellschaften.

Vielleicht noch ein zweites Beispiel: Heute versucht man Organisationen besser zu machen, indem man sie noch stärker kontrolliert. Früher gab es einen Jahresbericht, heute gibt es einen Quartalsbericht. Irgendwann einen Wochenbericht und dann sind es Algorithmen, die stündlich messen. Aber wir wissen seit Jahren, dass Kontrollen zum Kontroll-Paradox führen: Je mehr man Leute kontrolliert, umso schlechter arbeiten sie. Und umso mehr versuchen sie, das System zu missbrauchen. Klöster haben über die Jahrhunderte nur alle vier Jahre das Ganze kontrolliert, dafür aber richtig.

Sie haben in Ihren Arbeiten auch ein System vorgestellt, wie man eine gerechtere Führungsstruktur entwickeln könnte – bis hin zu einer gerechteren Politik. Sie sagen, man müsse die Chefs auslosen. Das klingt irgendwie absurd.

Es wäre nicht ein reines Losverfahren. Natürlich müssen die Anwärter eine gewisse Vorqualifikation haben. Aber aus einer Liste von drei bis sechs geeigneten Leuten wird dann ausgelost. Dies wurde in Basel im 17. Jahrhundert so gemacht: Professoren, der Kleine und Grosse Rat, die Geistlichkeit, die Zünfte. Warum hat man das gemacht? Weil der «Basler Daig» damals so schlimm geworden war. Es waren alle miteinander verwandt, Qualifikation und Eignung spielten keine Rolle mehr. Dann hat man das Auslosen eingeführt. Und das hat dazu geführt, dass wieder mehr Durchmischung, mehr Diversität entstand. Das schlagen wir für heute wieder vor. Denn es ist naiv zu glauben, dass die Fähigsten die Positionen kriegen.

Wenn ausgelost wird, bewerben sich auch eher Minoritäten, die sonst keine Chance haben. Denn das Los schützt in gewissem Masse auch vor Shitstorms. Weil man nicht derart exponiert ist.

Dafür macht man doch Assessments.

Ja, aber das meiste können wir gar nicht messen. Was ist ein guter Wissenschaftler, was ein guter CEO? Da gibt es zwar ein gewisses Grundverständnis. Aber manche mögen halt beim Wissenschaftler, wenn er ganz viel publiziert, andere, wenn er viel in der Öffentlichkeit auftritt, Dritte, wenn er gute Lehre macht. Das lässt sich nicht eindeutig messen.

Das zweite Problem, wovon uns das Losverfahren befreien würde, ist die Selbstüberschätzung. Ganz schlimm ist es, wenn jemand einen Preis gewinnt: Ein Jahr danach haben sie einen Korruptionsskandal oder sonst was an der Backe. Das ist kein Zufall. Wenn einem von allen Seiten gesagt wird, dass man der Beste ist, dann glaubt man es irgendwann selber. Das führt zur Selbstüberschätzung und eben auch zu Machtmissbrauch. Dazu gibt es sehr viel Evidenz, gerade zu Managern. Da wird dann viel zu teuer irgendwas eingekauft und danach ist das Unternehmen bankrott. Oder sie zahlen sich selbst extrem hohe Löhne aus.

Warum soll einer, der per Los gewählt worden ist, sich nicht so einen hohen Lohn auszahlen?

Das Los ist neutral. Das Los sagt nicht, du bist der Tollste. Und das weiss jeder. Jeder weiss, die Person hat schlicht Glück gehabt. Dann können sich Personen auch nicht mehr hinstellen und sagen: Ich bin ich fünfmal besser als ihr.

Und Sie glauben, ein solches Politsystem würde besser durch die Pandemie kommen?

Ja, weil es viel diverser ist. Wenn ausgelost wird, bewerben sich auch eher Minoritäten, die sonst keine Chance haben. Denn das Los schützt in gewissem Masse auch vor Shitstorms. Weil man nicht derart exponiert ist.

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