Das musst du wissen

  • Ein über Mail geteiltes Dokument, das auch higgs erhalten hat, fasst gängige impfskeptischen Argumente zusammen.
  • Die politische Spam-Kampagne soll auf die Debatte um die Impfpflicht in Deutschland Einfluss nehmen.
  • Die Liste der als Quelle dienenden Studien ist lang. Einem Faktencheck halten sie aber nicht stand.

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Den Text vorlesen lassen:

In den vergangenen Wochen hat die Redaktion von higgs wiederholt Mails erhalten, in denen die Absendenden Besorgnis «aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse und Fragen bezüglich der Sicherheit der Covid-Impfstoffe» ausdrücken. Beigefügt ist jeweils ein sechzehnseitiges PDF-Dokument mit dem Titel «Forderung nach wissenschaftlicher und öffentlicher Aufklärung von Sterblichkeit und Erkrankungen nach Covid-19 Impfungen». Kurz gesagt soll das Dokument die Unwirksamkeit und Gefährlichkeit der Corona-Impfungen beweisen. Wir haben versucht, die Personen zu kontaktieren, welche die Mails versendet haben – darüber, wer das Dokument mit welcher Absicht verfasst hat, liess sich aber nichts in Erfahrung bringen. Laut einer Einschätzung des Bayerischen Rundfunks handelt es sich um eine politische Spam-Kampagne mit gezielter Desinformation, die von impfskeptischen Telegram-Chats aus orchestriert wird. Doch was ist von den Behauptungen in dem Dokument zu halten? Die Kernargumente darin auf dem Prüfstand:

1. Nein, allgemeine Sterblichkeit korreliert nicht mit der Impfquote.

2. Nein, seit Beginn der Impfkampagne gibt es nicht mehr Herzinfarkte.

3. Nein, die Übersterblichkeit 2021 hat nichts mit Impftoten zu tun.

4. Nein, der Impfstoff zerstört nicht das Immunsystem.

5. Nein, es gibt keine hohe Dunkelziffer an Impftoten.

Anmerkung: Im Folgenden werden Studien zitiert, die keinen Peer-Review-Prozess durchlaufen haben, methodische Fehler enthalten oder gezielt als Wissenschaft getarnt Falschinformationen verbreiten. Um diese Dokumente nicht weiterzuverbreiten, haben wir sie nicht verlinkt.

1. Nein, allgemeine Sterblichkeit korreliert nicht mit der Impfquote

Genau das Gegenteil behauptet allerdings eine Studie von Forschenden der Columbia University, die in dem Dokument aufgegriffen wird. Die Studie ist allerdings wenig wissenschaftlich. Denn die Autorenschaft nutzt keine offiziellen Todeszahlen, sondern gleicht lediglich die beiden Datensätze zu Impfungen mit Zahlen zur Übersterblichkeit ab. Übersterblichkeit beschreibt, dass mehr Menschen im Vergleich zu den Vorjahren gestorben sind – allerdings ohne zu evaluieren, an was. Daraus folgert die Autorenschaft, – Achtung nun folgt die Falschinformation – dass Hunderttausende an der Impfung gestorben sind. Doch das ist ein Trugschluss: «Mit solchen Daten lässt sich die Frage, ob sich Impfungen positiv oder negativ auf die Todesfälle auswirken, nicht beantworten. Hierzu würde man Individualdaten benötigen», schreiben Statistik-Fachleute des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung RWI in einer Analyse zu sogenannten Scheinkorrelationen – dabei handelt es sich um zwei Variablen, die nur scheinbar einen Zusammenhang haben. Genau um solch eine Scheinkorrelation handelt es sich hier.

Die Berechnung ist also falsch, soll aber seriös erscheinen: Sie wird auf Researchgate, einem sozialen Netzwerk für Forschende, als Preprint aufgeführt. Preprints sind wissenschaftliche Arbeiten, die noch nicht in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht und somit von unabhängigen Forschenden begutachtet wurden. In dem Dokument heisst es, dies sei «aufgrund der Aktualität der Studien sowie der Langwierigkeit des wissenschaftlichen Publikationsprozesses» normal. Allerdings wurde das Dokument von mehr als zehn medizinischen Fachjournalen abgelehnt – das sagt Spiro Pantazatos, einer der Autoren, selbst in einem Interview. Pantazatos ist Assistenzprofessor an der Columbia University – allerdings für Neurobiologie. Seine fachliche Expertise in der Epidemiologie ist damit anzuzweifeln. Vielmehr fällt er mit einer Petition auf, welche die Abschaffung der Covid-Impfungen fordert.

Sein Co-Autor Herve Seligmann hingegen ist bereits in der Vergangenheit mit als Studien getarnten Desinformations-Dokumenten aufgefallen. Seine Schriften werden in impfkritischen Kreisen immer wieder geteilt, wurden in diversen Faktenchecks jedoch widerlegt – zum Beispiel hier und hier. Studien wie die vorliegende sollen also einen wissenschaftlichen Anschein machen – um seriöse Wissenschaft handelt es sich jedoch nicht.

2. Nein, seit Beginn der Impfkampagne gibt es nicht mehr Herzinfarkte

Fest steht: Weltweit sind Herzerkrankungen laut der Weltgesundheitsorganisation die häufigste Todesursache. In der Schweiz beispielsweise sind die Zahlen in den letzten fünfzig Jahren aber stetig zurückgegangen. In impfskeptischen Kreisen wird nun jedoch behauptet, dass Herzinfarkte und andere Herzkrankheiten seit Beginn der Impfkampagne zugenommen hätten.

Zwar können Herzmuskelentzündungen tatsächlich eine sehr seltene Nebenwirkung der Corona-Impfung sein. Das Risiko ist aber extrem gering: Eine britische Studie mit Daten von fast vierzig Millionen Geimpften berechnet ein Risiko von eins bis zehn Fällen pro Million Impfungen. Bei Covid-Erkrankungen liegt das Risiko für Herzmuskelentzündungen laut derselben Studie um das Vierfache höher.

Im Dokument wird hingegen eine vermeintliche Studie im Fachjournal Circulation zitiert, derzufolge mRNA-Impfungen das Risiko für Herzmuskelentzündungen verdoppeln. Unterschlagen wird dabei, dass es sich lediglich um ein Research Abstract handelt – das sind kurze Forschungszusammenfassungen für Fachkonferenzen und noch keine ausführlichen Studien mit Peer-Review. Das Abstract hat für enormen Wirbel gesorgt und kurz nach der Veröffentlichung wurde bereits auf methodische Fehler hingewiesen. Wir haben uns den Research Abstract im Science Check genauer angeschaut:

Science-Check ✓

Studie: Abstract 10712: Observational Findings of PULS Cardiac Test Findings for Inflammatory Markers in Patients Receiving mRNA VaccinesKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsUntersucht wurden biologische Merkmale, die das Risiko für Herzentzündungen erhöhen sollen. Der Forscher fand bei drei von neun Risikomarkern einen Anstieg nach Impfungen mit mRNA-Impfstoffen – das Risiko einer Herzkrankheit hätte sich also von elf auf 25 Prozent erhöht. Kurz nach Erscheinen des Abstracts druckte das Fachjournal Circulation eine Notiz, dass die Ergebnisse möglicherweise «nicht zuverlässig» sein könnten, denn es wurde auf Fehler in der Methodik hingewiesen: Das Abstract enthält keine Informationen über den Auswahlprozess der untersuchten Personen und deren medizinische Vorgeschichte – eine mögliche Stichprobenverzerrung kann also nicht ausgeschlossen werden. Zudem fehlt eine Kontrollgruppe. Der Autor musste den Artikel überarbeiten und erwähnen, dass die Ergebnisse «nicht statistisch getestet wurden». Die Bezeichnung «dramatischer Anstieg von Risikomarkern» im Titel wurde entschärft.Mehr Infos zu dieser Studie...

Ob es 2021 wirklich zu mehr Toten durch Herzerkrankungen kam, kann noch nicht gesagt werden, denn in der Schweiz und in Deutschland liegen noch keine Zahlen vor. Dass dabei aber ein Zusammenhang mit Impfungen besteht, gilt als äusserst unwahrscheinlich, wie auch Mortalitäts-Forschende in einem Faktencheck des Bayerischen Rundfunks resümieren. Problematisch scheint vielmehr die Covid-Erkrankung zu sein: Diese könnte mitunter ein Grund sein, wieso im ersten Corona-Jahr 2020 die Herzinfarkt-Sterblichkeit laut einer Studie aus Deutschland um fünfzig Prozent gestiegen ist.

3. Nein, die Übersterblichkeit 2021 hat nichts mit Impftoten zu tun

Zumindest in der Schweiz liegt die Sterblichkeit 2021 gemäss offiziellen Zahlen innerhalb Spannweite, die statistisch zu erwarten ist – Übersterblichkeit tritt den Daten zufolge hauptsächlich parallel zu den Corona-Wellen und nicht zur Impfkampagne auf. Dennoch wird im Dokument wiederholt auf eine europaweite Übersterblichkeit im Jahr 2021 aufmerksam gemacht. Tatsächlich kann die Übersterblichkeit phasenweise nicht allein durch an Covid Verstorbene erklärt werden – zumindest in Deutschland: Die zwanzigprozentige Übersterblichkeit im November 2021 in Deutschland beispielsweise kann nur zu einem Drittel durch Covid erklärt werden, wie das Statistische Bundesamt schreibt.

Über die Gründe dafür kann nur spekuliert werden. Doch ein Zusammenhang mit Impfungen, wie er in dem Dokument vermutet wird, ist äusserst unwahrscheinlich. In einem Faktencheck des Bayerischen Rundfunks nennt ein Mortalitätsforscher mögliche Erklärungsansätze: Beispielsweise könnten unentdeckte und unbehandelte Erkrankungen eine Rolle gespielt haben. Denn während der Lockdowns haben sich weniger Menschen aus Angst vor Corona-Ansteckungen ins Spital getraut: In Deutschland wurden in 18 Unispitälern während des ersten Lockdowns 2020 im Vergleich zum selben Zeitraum 2018 fast vierzig Prozent weniger Notaufnahmen mit Herzmuskelentzündungen beobachtet, wie eine Studie zeigt. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie sah sich sogar genötigt, eine Warnung an die Bevölkerung in Anbetracht dieser Zahlen auszusprechen. Hinzu kommen weitere Phänomene wie Spätfolgen einer Covid-Erkrankung und Folgen der ausgebliebenen Grippewelle, die alte und vorerkrankte Menschen nicht im Frühjahr, sondern erst im Herbst erwischte. Vermutlich könnte eine Mischung dieser Erklärungsansätze zur Übersterblichkeit geführt haben.

4. Nein, der Impfstoff zerstört nicht das Immunsystem

Impfungen trainieren das Immunsystem darauf, einen Erreger zu erkennen und diesen abzuwehren, wenn er in den Körper eintritt. Im Dokument wird dieser Fakt allerdings so dargestellt, als könnten Impfungen damit das Immunsystem schwächen. Das sollen etwa Laborversuche aus Schweden zeigen. Mittlerweile wurde in dem Fachmagazin Viruses, das die Studie abgedruckt hat, aber ein Kommentar veröffentlicht, in dem Forschende auf methodische Mängel in der Studie hinweisen. Die Studienautoren wollten die Studie zwischenzeitlich sogar zurückziehen, da falsche Schlussfolgerungen daraus gezogen wurden. Auch eine andere Preprint-Studie, die die Behauptung der Autorenschaft des Dokuments stützen soll, wurde einem Faktencheck des SWR zufolge falsch interpretiert.

Doch auch mit seriös anmutenden, aber unwissenschaftlichen Studien sollen die Desinformationen im Dokument glaubhaft gemacht werden. Eine der aufgeführten Preprint-Studie beispielsweise kommt auf den ersten Blick besonders wissenschaftlich und komplex daher. Doch die Tonalität der Studie, die in der Regel nüchtern verfasst sein sollte, macht die impfskeptische Haltung der Forschenden deutlich. Keiner der Forschenden – eine Computertechnologin, ein Kardiologe, ein Mikrobiologe und ein Naturheiler – hat virologische Expertise. Die diversen Falschinformationen und unbelegten Behauptungen ihrer Studie wurde derweil vom Institute for Strategic Dialogue widerlegt. Es gibt also keine seriösen Anhaltspunkte für negative Auswirkungen der Corona-Impfung für das Immunsystem.

Auch die Behauptung, dass die Impfung nicht sonderlich wirksam vor einer Corona-Infektion schütze, ist klar zu widerlegen. Die gängigen Impfstoffe sind gut wirksam. In dem Dokument wird allerdings behauptet, dass Genesene besser vor einer erneuten Corona-Infektion geschützt seien als Geimpfte. Dieser Rückschluss wird aus einer seriösen Pre-Print-Studie mit grossem Datensatz aus Israel gezogen. Die Daten stammen allerdings noch aus dem vergangenen Sommer – als die Delta-Variante vorherrschend war und noch niemand geboostert war. «Wir erachten mittlerweile aber nur eine Dreifach-Impfung mit Booster als vollen Impfschutz», sagt dazu Leif-Erik Sander, Impfstoffforscher an der Berliner Charité. Er führt aus, dass die Reinfektionen von Ungeimpften durch die Omikron-Variante regelrecht explodiert seien – der langfristige Schutz vor einer Reinfektion ist also auch durch eine Infektion nicht gewährleistet. «Die Strategie, sich zu infizieren, um sich nicht zu infizieren, ist an Absurdität nicht zu überbieten», findet Sander.

5. Nein, es gibt keine hohe Dunkelziffer an Impftoten

In der Schweiz gibt es keine bestätigten Impftodesfälle. Die Arzneimittelbehörde Swissmedic hat insgesamt 209 Todesfälle untersucht, die kurz nach Corona-Impfungen aufgetreten sind – wohlgemerkt bei einer durchschnittlich achtzigjährigen Altersgruppe und insgesamt schweizweit 15 Millionen Impfungen. In allen der untersuchten Fälle kam man zum Ergebnis, dass eine andere Todesursache als die Impfung wahrscheinlicher ist. In Deutschland zählt das Paul-Ehrlich-Institut von Ende 2020 bis Ende 2021 rund 2000 Verdachtsfälle, bei welchen Todesfälle im zeitlichen Zusammenhang mit Corona-Impfungen standen. Im gleichen Zeitraum wurden in Deutschland fast 150 Millionen Impfungen verabreicht. Im Dokument wird hingegen behauptet, dass Autopsien in knapp dreissig Prozent der Untersuchungen «wahrscheinliche Zusammenhänge» herstellen könnten. Dieser Wert entstammt zwar einer seriösen Untersuchung – allerdings wurden lediglich 18 Todesfälle untersucht, von denen in 13 Fällen andere Ursachen gefunden wurden.

Könnte es aber nicht dennoch eine Dunkelziffer geben? Ausgeschlossen ist das letztendlich nicht. Zsuzsanna Varga, Pathologin und Leitende Ärztin am Universitätsspital Zürich, findet, dass mehr Obduktionen sinnvoll sein könnten: «Bislang haben wir am Uni-Spital Todesfälle im niedrigen zweistelligen Bereich auf einen Zusammenhang mit der Impfung untersucht – das sind viel zu wenige Fälle, um genaue Aussagen aufgrund der Autopsiebefunde machen zu können.» Damit es mehr Obduktionen geben kann, müsste allerdings auch die Bereitschaft für diese steigen. Denn Autopsien unterliegen in der Schweiz der Zustimmungsregelung – das bedeutet, dass nur auf ärztliche Anordnung und mit Zustimmung der Angehörigen oder Bezugspersonen Autopsien möglich sind. Die Autopsien müssen relativ schnell nach dem Tod durchgeführt werden – alles Faktoren, die in vielen Fällen die Durchführung von Autopsien behindern. Das ist jedoch kein Grund, eine bedeutend höhere Dunkelziffer an Impftoden zu vermuten. Denn schwerwiegende unerwünschte Impferscheinungen sind in der Schweiz gemäss Heilmittelgesetz sowie auch in Deutschland gemäss Infektionsschutzgesetz meldepflichtig. Wer eine vermutete Impfkomplikation nicht meldet, macht sich strafbar. Wenn also jemand kurz nach einer Impfung ins Spital eingeliefert wird, erhält Swissmedic eine entsprechende Meldung. Das Risiko einer hohen Dunkelziffer würde also nur entstehen, wenn ärztliche Expertisen bei Todesfällen gar keinen Zusammenhang zur Impfung ziehen würden. In Anbetracht von 15 Millionen Impfungen ist es aber sehr unwahrscheinlich, dass grossflächige Nebenwirkungen mit Todesfolge unentdeckt bleiben.

Fazit

Viele der Quellen im Dokument sollen den Anschein erwecken, dass wissenschaftliche Zweifel an den Corona-Impfungen bestehen. Dabei sind die Forschenden, welche diese Quellen veröffentlichen, selten vom Fach. Dass einige Forschende selbst exponierte Persönlichkeiten in impfkritischen Kreisen sind, führt zu voreingenommenen Annahmen, welche die Methodik der Studien beeinflussen. Einige der Studien sind nicht in anerkannten wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht worden – die Überprüfung durch unabhängige Forschende fehlt also. Hingegen wurden die «vielfachen Studien, die für Impfungen sprechen» im Dokument nicht wiedergegeben, «da sie hinreichend bekannt sind». Tatsächliche Impfnebenwirkungen werden aufgebauscht und offizielle Daten zu Impftoten infrage gestellt. Entsprechend wird ein unausgewogenes Bild gezeichnet, das einseitig auf wissenschaftlich unsauberen Studien fusst. Diese Desinformationen sollen Impfskepsis einen seriösen Anschein geben und diese rational legitimieren, auch wenn es dafür keine wissenschaftliche Grundlage gibt.

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