Mélanie Lavoie-Tremblay

Mélanie Lavoie-Tremblay ist ausserordentliche Professorin an der Ingram School of Nursing der McGill University in Montrealund referierte an der ersten internationalen Konferenz «Countering Staff Shortage Among Health Professions», die vom Competence Network Health Workforce CNHW organisiert wurde. Sie entwickelte ein Pilot-Programm, das frischdiplomierten Pflegefachpersonen den Berufseinstieg erleichtern soll.

Frau Lavoie, warum beschäftigen Sie sich mit dem Berufseinstieg von Pflegefachpersonen?

Mélanie Lavoie: Ich war einst Pflegefachfrau – und mein Einstieg in die klinische Gesundheitsversorgung war stressig. Ich erlebte eine Kluft zwischen dem, was ich während der Ausbildung lernte, und dem Arbeitsalltag. Diese Kluft existiert auch heute – in der Literatur sprechen wir vom «Reality Shock».

Was bedeutet dieser «Reality Shock» für den Pflegenachwuchs?

Neueinsteigende erwarten, dass sie bei Stellenantritt begleitet werden, Zeit haben, sich an die Arbeit zu gewöhnen und sich ins Team zu integrieren. Stattdessen herrscht in der Pflege in Kanada eine hohe Arbeitsauslastung. Vom ersten Tag an müssen die jungen Leute vollen Arbeitseinsatz leisten und Verantwortung übernehmen, nicht selten haben sie in der ersten Woche eine Nachtschicht. Sie sind noch keine routinierten Expertinnen und Experten. All dies bedeutet psychischer Stress. Die Neueinsteigerinnen und -einsteiger sind folglich häufig überfordert und verlassen den Beruf nach kurzer Zeit.

Haben die heutigen Studierenden – zumeist Angehörige der Generation Y – besondere Ansprüche an das Arbeitsumfeld?

Aus Studien wissen wir, dass es der Generation Y wichtig ist, informiert zu sein und regelmässig Feedback zu erhalten. Auch sehen die jungen Leute den Arbeitsort als sozialen Ort, an dem sie Teil einer Gruppe sind. Nicht zu vergessen: Jüngere Arbeitnehmende erwarten Herausforderungen am Arbeitsplatz, an denen sie wachsen können – auf eine gesunde Art und Weise – und eng damit verbunden Entwicklungsperspektiven.

«Ich erlebte eine Kluft zwischen dem, was ich während der Ausbildung lernte, und dem Arbeitsalltag. Wir sprechen von ‘Reality Shock’.»

Sie haben ein Pilot-Programm entwickelt: Erfahrene, klinisch tätige Pflegefachpersonen tauschen sich in zweistündigen Unterrichtseinheiten mit Bachelor-Studierenden einer Universität in Montreal aus. Zweimal während des letzten Studienjahrs und einmal nach dem Berufseinstieg. Welche Inhalte diskutieren sie?

Das Ziel ist, den Nachwuchs für den Berufseinstieg zu stärken, ihm eine Plattform zu geben, sich intensiv mit dieser herausfordernden Phase zu befassen und sie letztlich darin zu bestärken, im Beruf zu bleiben. Das erste Treffen der Gruppen dreht sich um Stressmanagement. Die Mentorinnen und Mentoren vertiefen mit den Studierenden, wie sie den Arbeitsumfang bewältigen, priorisieren, fachlich argumentieren und Sorge zu sich selbst tragen. In der zweiten Runde diskutieren die Gruppen über die Organisationskultur in einem Spital, über Rollenerwartungen und darüber, wie der Nachwuchs Feedback einholen und darauf reagieren kann. Im dritten Gruppentreffen, rund drei Monate nach dem Berufseinstieg, tauschen die Teilnehmenden Erfahrungen zum erfolgten Berufseinstieg aus und evaluieren das Programm.

War es schwierig, Pflegefachpersonen als Mentorinnen und Mentoren zu gewinnen?

Am Anfang befürchteten wir genau das – schliesslich ist die Tätigkeit unbezahlt und die Pflegefachpersonen müssen sich auf die Schulung der Studierenden vorbereiten. Allerdings war eine grosse Bereitschaft auf Seiten der Pflegefachpersonen vorhanden, ihren Nachwuchs zu unterstützen. Wir waren positiv überrascht. 

Was bewirkt das Programm?

Daten zu der Wirkung haben wir mit einer Umfrage erhoben. Die Umfrageergebnisse zeigen, dass die frisch Diplomierten Selbstvertrauen entwickelt haben, gelernt haben, Feedback einzuholen, den Stress-Level reduziert und die Motivation gestärkt haben. Von einer bereichernden Erfahrung berichten auch die Mentorinnen und Mentoren, die für die Bedürfnisse ihrer jüngeren Kolleginnen und Kollegen sensibilisiert wurden und nebenbei ihre didaktischen Fähigkeiten erweiterten. 80 Prozent der Umfrageteilnehmenden würden das Programm weiterempfehlen. Es ist allerdings noch zu früh, um zu beurteilen, ob das Programm Auswirkungen auf den Verbleib im Pflegeberuf hat.

Dass Studierende während der Ausbildung Berührungspunkte mit der Praxis haben, ist nicht neu. Was ist denn das Innovative an Ihrem Programm?

Natürlich ist das Pflege-Studium praxisnah. Auch haben viele Gesundheitsinstitutionen Einführungsprogramme entwickelt. Das Programm aber verleiht durch den Einbezug der erfahrenen Pflegefachpersonen der Realitätsnähe des Studiums eine noch höhere Qualität. Es hebt die Verknüpfung von Hochschule und Gesundheitspraxis, von Ausbildung und Berufsalltag auf ein neues Level. Die Studierenden erfahren aus erster Hand und in einem persönlichen Setting, was sie im Beruf erwartet und wie sie mit Herausforderungen umgehen können. Ausbildung und Praxis können so verbessert werden. Letztlich haben beide Seiten zum Ziel, den Patientinnen und Patienten eine gute Pflege zu bieten.

Dieser Artikel erschien erstmalig in «knoten & maschen», dem Wissenschaftsblog des BFH-Zentrums Soziale Sicherheit. «knoten & maschen» beleuchtet das Thema Soziale Sicherheit aus den unterschiedlichen Perspektiven von Wirtschaft, Gesundheit, Soziale Arbeit und Gerontologie. Der Blog präsentiert regelmässig Forschungsergebnisse, Thesen und Diskussionen – verständlich, interaktiv und multimedial!
Kontakt zu den Forschenden: Mélanie Lavoie-Tremblay, Ingram School of Nursing, McGill University, Montreal; Christoph Golz, Projektkoordinator, Competence Network Health Workforce CNHW.

Berner Fachhochschule BFH

Hier präsentiert die Berner Fachhochschule BFH Geschichten aus der Forschung.
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