Das musst du wissen
- Der Frühling hat sich in den letzten 45 Jahren um fast drei Wochen nach vorne verschoben.
- Auch Rehe bringen nun ihre Kitze im Schnitt früher auf die Welt – allerdings nur drei Tage.
- Milde Winter und viel Nahrung gleichen diesen Effekt aber aus.
Rehkitze kommen nicht per Zufall im Frühling zur Welt: Die frischen Triebe von Gräsern und Blumen im Frühling sind für Pflanzenfresser besonders schmackhaft. Sie enthalten viele Nährstoffe und Energie, aber nur wenig Ballaststoffe. Später, wenn die Pflanzen zu blühen beginnen, werden sie zäher und schwerer zu verdauen. Rehe haben sich im Lauf der Evolution daran angepasst und bringen ihre Jungen also genau dann zur Welt, wenn es viel frisches Grün zu fressen gibt. Doch diese Anpassung klappt schlechter und schlechter.
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Ein Team der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) hat über einen Zeitraum von 45 Jahren die Entwicklung der Vegetation und die Geburtszeiten von Rehen in der ganzen Schweiz untersucht. Das Ergebnis: Der Vegetationsbeginn, als das Spriessen der Pflanzen, hat sich zwischen 1971 und 2015 um insgesamt 20 Tage nach vorne verschoben. Der Zeitpunkt der Heuernte, die kurz vor dem Blühen der Pflanzen stattfindet, verschob sich um 14 Tage nach vorne. Rehe brachten ihre Jungen 2015 jedoch nur drei Tage früher zur Welt als 1971.
Science-Check ✓
Studie: Advancing plant phenology causes an increasing trophic mismatch in an income breeder across a wide elevational rangeKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsFür die Studie wurden die Geburtszeiten von 8983 Rehkitzen aus den Jahren 1971 bis 2015 berücksichtigt. Der Datensatz ist damit gross und wurde kontinuierlich über einen langen Zeitraum erhoben. Bollmann selbst nennt ihn «eine kleine Goldgrube». Die Daten stammen aus dem Projekt «Rehkitzmarkierung Schweiz», bei dem Jägern und Jägerinnen sowie Wildhüter Kitze mit Ohrmarken versehen. Da das Projekt auf freiwilliger Mithilfe basiert, können theoretisch gewisse Unregelmässigkeiten im Datensatz vorkommen, die jedoch durch dessen Grösse und die hohe Anzahl der Freiwilligen (3600 zwischen 1971 und 2015) ausgeglichen werden.Mehr Infos zu dieser Studie...«Es ist ein zeitlicher Mismatch entstanden», konstatiert der Ökologe Kurt Bollmann, der die Studie geleitet hat. Er hat dafür auch eine Erklärung: «Pflanzen werden in ihrer Entwicklung von der Temperatur gesteuert und können sich daher leichter an Klimaveränderungen anpassen». Rehe hingegen seien träge in ihrer Anspassung: «Rehe haben eine konstante Körpertemperatur. Ihr Verhalten wird stark von den Hormonen und dem Tag-Nacht-Rhythmus gesteuert, dadurch sind sie nicht so flexibel. Der Tag-Nacht-Rhythmus von heute ist der gleiche wie zum Beginn der Studie», so Bollmann.
Was heisst das für die Rehe? «Man würde erwarten, dass sich der Mismatch auf die Reproduktion und letztendlich auch auf die Population auswirkt», sagt Bollmann. «Doch die Rehbestände sind stabil.» Selbst wenn man bedenke, dass manche Effekte erst mit Verzögerung auftreten, hätte man in 45 Jahren etwas merken müssen, findet der Ökologe. Er geht deshalb von zwei anderen Faktoren aus, die den Nachteil für die Rehe ausgleichen: mildere Winter und unsere Kulturlandschaft. «Früher sind in harten Wintern viele Rehe gestorben, das passiert jetzt seltener.» Auch Nahrung haben die Tiere mehr als genug: «Rehe haben nicht mehr nur naturnahe Heuwiesen als Nahrungsquelle, sondern auch Fettwiesen, Felder und Wälder. Durch die Kultivierung gibt es fast immer alternative Nahrung», hält er fest.
In ihren Daten konnten die Forschenden allerdings auch sehen, dass sich der Frühling in niederen Lagen besonders stark nach vorne verschob, in höheren weniger. Der optimale Lebensraum der Rehe könnte sich also in Richtung höherer Lagen verschieben. Bollmann meint: «Wir schliessen nicht aus, dass es in tieferen Lagen in Zukunft weniger Rehe gibt. Aber das wird wahrscheinlich kompensiert durch bessere Bedingungen in der Höhe.» Vorerst hat der frühe Frühling also vor allem einen Effekt: Die besten frischen Triebe entgehen den Tieren.