Das musst du wissen

  • Männer lassen sich viel seltener aufgrund psychischer Probleme behandeln als Frauen.
  • Männer sind tendenziell weniger geübt, ihre Emotionen einzuordnen und Warnsignale zu erkennen.
  • Um Hilfe zu bitten fällt einem Mann deutlich schwerer, da es nicht zum gesellschaftlichen Bild der Männlichkeit passt.

Die grösste Gefahr für Männer unter 45 Jahren sind oftmals sie selbst. Suizide gehören neben Unfällen mit Abstand zu den häufigsten Todesursachen bei Männern dieser Altersgruppe. Angesichts dieser Zahlen ist es umso erschreckender, dass sich Männer viel seltener als Frauen aufgrund eines psychischen Problems behandeln lassen. Nur rund vier Prozent der Männer zwischen 15 und 44 Jahren waren in Behandlung, jedoch rund neun Prozent der Frauen – also doppelt so viele. Wie kommt es dazu, dass Männer offensichtlich mehr Schwierigkeiten haben, in Fällen von erhöhtem psychischem Leiden Hilfe in Anspruch zu nehmen?

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Ein Grund dafür könnte sein, dass Männer tendenziell weniger geübt sind, ihre Emotionen einzuordnen und Warnsignale zu erkennen. Professorin Anita Riecher-Rössler, emeritierte Ordinaria für Psychiatrie der Universität Basel und Chefärztin an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, meint: «Manche Männer scheinen ihre eigenen depressiven Gefühle selbst schlecht zu spüren – wahrscheinlich, weil sie sie aufgrund ihrer Erziehung verdrängen. Zumindest können sie sie oft nicht gut verbalisieren.» Die Psychiaterin ist unter anderem spezialisiert auf geschlechtsspezifische Unterschiede bei psychischen Krankheiten und kennt die Gründe, die es Männern erschweren, frühzeitig Hilfe zu suchen.

«Gefühle zu zeigen, gilt bei Männern oft eher als ‹Sissi Stuff›», ergänzt Riecher-Rössler. Typisch ‹weibliche› Fähigkeiten oder Verhaltensweisen werden von Männern offenbar eher vermieden, aus Angst, feminin zu wirken. Vielen Männern fehlen somit wichtige Schlüsselkompetenzen, die für einen gesunden Umgang mit psychischen Belastungen unabdingbar sind. Zudem sind bei einer schwach ausgeprägten Wahrnehmung der eigenen Gefühle die Chancen kleiner, dass Anzeichen einer psychischen Erkrankung von der betroffenen Person früh erkannt werden.

Ist ein guter Mann ein guter Mensch?

Im Rahmen eines TEDx Talks namens How Dustin Hoffman broke my heart (and how we can educate boys) schildert Ran Gavrieli die Antworten von Kindern auf die Frage, was ihrer Meinung nach einen guten Mann ausmache. Gemäss den Kindern ist ein guter Mann stark, furchtlos, gut im Sport, reich. Er ist eine Führungsperson und ein Frauenheld. Ganz anders fielen die Antworten aus, als Gavrieli die Kinder fragte «Was macht denn einen guten Menschen aus?». Ein guter Mensch sei grosszügig, nett, sanft, ehrlich, freundlich, liebevoll. Mit ihm könne man Sachen teilen, auf ihn könne man zählen. Laut Gavrieli gab es bei den Antworten der Kinder keine Überlappung zwischen den Merkmalen eines guten Mannes und denen eines guten Menschen.

Das gesellschaftliche Männlichkeitsideal vom unbeugsamen und selbstsicheren Ernährer der Familie scheint für gewisse Charaktereigenschaften wenig Platz zu haben. Über die eigenen Gefühle zu sprechen ist in der Regel nicht etwas, das bei der Erziehung von Männern gefördert wird. Im Gegenteil: Diese Fähigkeiten werden in unserer Kultur generell Frauen zugeschrieben.

Hilfsbedürftigkeit und Schwäche sind tabu

Männer haben laut Riecher-Rössler oft mehr Mühe, sich Schwäche einzugestehen. Dazu gehört beispielsweise zu akzeptieren, dass sie mit einer psychischen Erkrankung alleine nicht zurecht kommen. «Männer werden dazu erzogen, stark zu sein und keine Schwächen zu zeigen», meint sie. Problematisch ist sicherlich, wie der Begriff der Stärke in manchem Kontext gedeutet wird. So gilt man als Mann oft als stark, wenn man Gefühle wie Angst oder Unsicherheit selbst nicht spürt: Ein komplett unrealistischer Anspruch. Sie führt dazu, dass Männer beim Versuch diesem «Ideal» näherzukommen, Gefühle vor anderen verstecken oder abstreiten.

Interessant sind in diesem Zusammenhang geschlechtsspezifische Verhaltensweisen von depressiven Patientinnen und Patienten. Obwohl es noch wenige Untersuchungen gebe, lassen sich laut Professorin Riecher-Rössler einige tendenzielle Unterschiede zwischen den Geschlechtern feststellen: «Während Frauen ihre depressiven Gefühle eher zeigen und darüber reden, tendieren Männer dazu, Kummer und Traurigkeit abzustreiten und stattdessen eher über Stress zu klagen, sich gleichzeitig beruflich übermässig zu engagieren, aber sozial zurückziehen», sagt sie. «Hilfe von anderen wollen sie nicht annehmen, nach dem Motto: ‹Ich kann das schon allein›, ‹lass mich in Ruhe›.» Häufig komme es auch zu Ärgerattacken, Alkohol oder Nikotinexzessen, übermässigem Sport ohne Entspannung, ab- oder zunehmendem sexuellem Interesse.

Um Hilfe zu bitten fällt einem Mann deutlich schwerer, besonders, wenn es um intime Fragen geht, welche seine Verletzlichkeit preisgeben. «Hilfsbedürftigkeit wird oft als Schwäche ausgelegt», meint Riecher-Rössler. Spätestens, wenn ein psychisches Leiden vorliegt, wird jedoch offensichtlich, dass man nicht all seine Probleme allein lösen kann.

Bei der Erziehung ansetzen

Es scheint klar, dass viele Männer unter der Starrheit der Geschlechterrollen leiden. Wie aber können wir bewirken, dass der Begriff «Männlichkeit» ein wenig ausgeweitet wird, sodass mehr Raum für individuelle Anpassungen entsteht?

Eine wichtige Komponente in dieser Hinsicht ist wohl die Beteiligung des Vaters an den Aufgaben der (Früh)-Erziehung. Markus Theunert, Programmleiter MenCare Schweiz und Mitglied der Geschäftsleitung bei männer.ch, sagt in einem Interview: «Die Phase der Familiengründung ist nicht nur für die Familie selbst eine sensible Phase, sondern eben auch für die Chancengleichheit. Einerseits öffnet sich genau zum Zeitpunkt der Familiengründung die Traditionsschere zwischen den Geschlechtern: die frisch gebackenen Mütter reduzieren ihre Erwerbsarbeit oder hören ganz auf damit – und die Väter steigern im statistischen Schnitt noch ihr Pensum.» Weiter erläutert er: «[Die Mutter] erwirbt sich im Nu einen massiven Kompetenzvorsprung in der Kinderbetreuung, verliert aber den Anschluss ans Erwerbsleben. [Der Vater] findet seine Bestätigung in der Erwerbsarbeit, wird aber daheim fast zwangsläufig zum ‹Erziehungs-Assistenten›. Und beides hat massive Folgen: auf die Paarbeziehung, auf die Eltern-Kind-Beziehung, auf die beiden Elternteile, ihr Wohlbefinden und ihr Selbstwert.»

Kinder profitieren von Vätern, deren Zuständigkeitsbereich über das Berufliche und Finanzielle hinausreicht. Von Vätern, die als eine der Mutter ebenbürtige Ansprechperson agieren können und sich durch die sorgfältige Beteiligung an Erziehungsaufgaben emotionale Kompetenzen angeeignet haben. Ist die Rollenverteilung der Eltern weniger stark polarisiert, werden Kinder in ihrer Entwicklung wohl weniger von starren Geschlechterrollen eingeengt. Vorteile daraus können nicht nur die Kinder ziehen, sondern auch die Väter: Zeit mit den Kindern zu verbringen und eine engere Beziehung mit ihnen aufzubauen, fördert die Lebensqualität. Riecher-Rössler weiss das aus Erfahrung: «Dieser enge Kontakt mit dem Neugeborenen stimuliert offensichtlich auch Väter oft zu ganz neuen Glücksgefühlen, auf die sie gar nicht mehr verzichten wollen.»

Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Geschlecht, Geschlechtsrollenverhalten und gesellschaftliche Entwicklung» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von reatch.

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