Biologie und Medizin gelten als diejenigen Wissenschaften, die sich mit dem menschlichen Körper und seinen Gesetzen am besten auskennen. Ein Blick auf historische und aktuelle Definitionen von Geschlecht aber zeigt, dass diese beständig diskutiert und umdefiniert werden. Um 1800 galten die «Gonaden» genannten Keimdrüsen – die Eierstöcke beziehungsweise die Hoden – als physiologischer Kristallisationspunkt einer je spezifischen Differenzierung und Entwicklung der Geschlechter. Bekannt war allerdings damals schon, dass es Menschen gibt, die sowohl Hoden als auch Eierstöcke besitzen.
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Anfang des 20. Jahrhunderts wuchs die Hoffnung, dank Hormonforschung und Genetik eindeutigere Kriterien zu finden. Führende Genetiker wie der Biologe Richard Goldschmidt dämpften aber bald die Erwartungen: Seine Forschung ergab, dass auch die geschlechtsbestimmenden Gene eine relative, quantitative Differenz der Geschlechter anzeigten und keine absolute – dass also keine eindeutig biologisch bestimmbare Grenze zwischen den Geschlechtern existiert. So erklärte Goldschmidt die Entstehung geschlechtlicher Zwischenstufen und führte den Begriff «Intersexualität» ein.
Intersexualität
Heute dient das Wort als Sammelbegriff für verschiedene Störungen der somatosexuellen Differenzierungsprozesse. Am besten erforscht ist das Adrenogenitale Syndrom (AGS), dessen Ursache eine Unterversorgung mit Kortison im Mutterleib ist und das bei Mädchen zu einer Virilisierung ausschliesslich des äusseren Genitals führt. Bei Buben fällt AGS in der Regel nicht auf.
Ebenfalls auf eine hormonelle Störung zurückzuführen ist der Fünf-Alpha-Reduktase-Mangel, der die Bildung von Androgenen (Sexualhormone) wie Testosteron verhindert, weshalb keine männlichen Geschlechtsmerkmale ausgebildet werden. Betroffene werden als Mädchen geboren. Die Störung wird oft erst in der Pubertät erkannt, wenn die Menstruation ausbleibt und der Stimmbruch einsetzt.
Die Anlage für beide Phänomene wird vererbt. Vielfach unentdeckt bleibt die Intersexualität bei Betroffenen des Androgyn-Insuffizienzsyndroms (AIS), die – genetisch männlich – Testosteron zwar bilden können, deren Androgenrezeptor aber nicht oder nur unzureichend funktioniert. Bei kompletter Androgenresistenz fehlen – trotz weiblicher äusserer Geschlechtsmerkmale – Gebärmutter, Eierstöcke und Eileiter.
Unter dem Begriff Gonadendysgenesien schliesslich werden verschiedene Krankheitsbilder zusammengefasst, die mit Abweichungen auf der Ebene der Geschlechtschromosomen zusammenhängen und die vollständige Entwicklung der Keimdrüsen verhindern. Innere und äussere Organe der Neugeborenen können alle Grade der Ambivalenz zwischen den Geschlechtern aufweisen.
Nur äusserst selten hingegen tritt der sogenannte «Echte» Hermaphroditismus auf: Dank einem doppelten Chromosomensatz entwickeln diese Menschen sowohl männliche als auch weibliche Organe.
Grundsätzlich aber muss nach diesen Ausführungen festgehalten werden, dass eine «Störung», beziehungsweise «Krankheit» nicht dasselbe ist wie «Kranksein»: «Pathogenetisch handelt es sich bei den Abweichungen hinsichtlich der Geschlechtsdifferenzierung um eine Störung oder Krankheit», führt der Berliner Psychologe Knut Werner-Rosen – einer der führenden Experten in Deutschland für Intersexualität – aus, «das heisst aber nicht, dass die betroffenen Menschen sich krank fühlen und krank in salutogen ethischer Hinsicht sind.» Im Gegenteil entstand ein lebenslanger medizinischer Behandlungsbedarf in der Vergangenheit oft erst mit sogenannten «angleichenden» operativen Eingriffen im Säuglingsalter bei Kindern mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen.
Die Nationale Ethikkommission (NEK) – die aufgrund des Wunsches von Betroffenen nicht von Intersexualität, sondern von «Varianten der Geschlechtsentwicklung» (DSD, Abkürzung der englischen Bezeichnung «Difference of Sex Development») spricht – erkannte 2012 denn auch an, «dass Menschen mit DSD in der Vergangenheit Leid zugefügt wurde hinsichtlich Selbstbestimmungsrecht und dem Recht auf körperliche und psychische Integrität».
2016 formulierte die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) rechtliche Grundsätze und medizinische Massnahmen, darunter den Aufschub irreversibler, nicht dringlicher Eingriffe, bis der Patient oder die Patientin selbst darüber entscheiden kann. Die Arbeitsgruppe DSD der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGPED) stellte 2018 in einem Bericht über die aktuelle medizinische Versorgung von Kindern mit DSD in der Schweiz fest, dass noch grosser Nachholbedarf besteht bei der Sozialberatung und psychologischen Unterstützung – vor allem auch der Eltern.
Transsexualität
Die Medizin geht heute davon aus, dass auch unser Gehirn zu den Sexualorganen gehört. In manchen Teilen der Welt betrachtet die Forschung deshalb Transsexualität als Sonderform der Intersexualität. Die theoretische Annahme, dass Transsexualität angeboren ist, konnte jedoch bisher nicht zweifelsfrei belegt werden – allerdings gibt es Anzeichen, dass genetische Faktoren und ein hormonelles Ungleichgewicht während der Embryonalentwicklung zumindest einen Einfluss haben – das Phänomen tritt auch meist schon im Vorschulalter auf. Betroffene bevorzugen für die geschlechtliche Inkongruenz, bei der körperliches und psychisches Geschlecht nicht übereinstimmen, den Begriff «Transidentität» – weil es sich nicht um ein sexuelles, sondern übergreifendes Geschlechtsidentitätsproblem handelt.
Transgender dagegen ist kein medizinischer, sondern ein politischer und soziologischer Begriff. Leidensdruck entsteht den Betroffenen nicht in erster Linie durch den Geschlechtsidentitätskonflikt, sondern durch Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen und anderen wichtigen Funktionen in einer grösstenteils nach wie vor ablehnenden und mangelnd informierten Öffentlichkeit.
Asexualität und Homosexualität
Im Gegensatz zur Inter- und Transsexualität beziehen sich die beiden Begriffe Homo- und Asexualität nicht auf die eigene Geschlechtsidentität, sondern auf die sexuelle Orientierung.
Asexualität ist nicht zu verwechseln mit sexueller Abstinenz – sie bezeichnet die Abwesenheit sexueller Anziehung gegenüber anderen, fehlendes Interesse an Sex oder ein nicht vorhandenes Verlangen danach, schliesst aber eine romantische Anziehung nicht aus.
Homosexualität bezeichnet sowohl erotisches und romantisches Begehren gegenüber Personen des eigenen Geschlechts als auch darauf aufbauende Identitäten.
Asexualität wird nicht als Krankheit angesehen, sie ist deshalb auch kaum erforscht und statistische Daten fehlen nahezu vollständig. Die Homosexualität dagegen hat einen langen Weg von Stigmatisierung, Kriminalisierung und Medikalisierung hinter sich, wurde aber 1990 von der Weltgesundheitsorganisation von der Liste psychischer Krankheiten gestrichen und erlebt seither zunehmende Akzeptanz und rechtliche Gleichstellung in Westeuropa, Nord- und Südamerika, Australien und Neuseeland. In 78 von 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen aber werden Homosexuelle weiterhin strafrechtlich verfolgt, im Iran und im Sudan, in Jemen, Saudi-Arabien und Mauretanien sowie in Teilen Nigerias und Somalias ist für gleichgeschlechtlichen Verkehr sogar die Todesstrafe vorgesehen.