Das musst du wissen

  • Bei manchen Arten schliessen sich einzelne Individuen einer Gruppe an und unterstützen sie.
  • In der Gruppe pflanzen sie sich nicht fort – ein vermeintlicher Widerspruch zur natürlichen Selektion.
  • Das Verhalten kann trotzdem dem Fortbestand der eigenen Gene helfen, erklären Schweizer Forschende.
Den Text vorlesen lassen:

Schon lange rüttelt die Wissenschaft am Thron der Menschen als «Krone der Schöpfung», den wir seit alttestamentarischen Zeiten inne hielten: Charles Darwins Evolutionstheorie bewies, dass wir nicht mehr als eine Gattung der Menschenaffen sind. Die Schimpansenforscherin Jane Goodall widerlegte, dass wir als einzige Werkzeuge nutzen können. Auch, dass wir als einzige Spezies ein Ich-Bewusstsein besitzen, stimmt nicht. Selbst die Weitergabe kultureller Traditionen beschränkt sich nicht auf den Menschen. Was hebt uns dann von den Tieren ab? Vielleicht, dass wir als einzige Art selbstloses Handeln an den Tag legen – den Altruismus? Tatsächlich hat die Forschung zahlreiche Hinweise auf altruistisches Verhalten in der Tierwelt gefunden. Eine neue Studie von Forschenden der Universitäten Bern und Neuenburg, die im Fachmagazin Science Advances erschienen ist, hat die Mechanismen hinter diesem selbstlosen Handeln untersucht.

Science-Check ✓

Studie: The evolution of cooperative breeding by direct and indirect fitness effectsKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDer Studie beinhaltet keine Feldforschung, sondern lediglich eine Modellrechnung, die mit Beobachtungen aus anderen Studien verifiziert wird. Da ein Computermodell nie die ganze Vielfalt der Natur abbilden kann, handelt es sich um eine stark vereinfachte Darstellung der natürlichen Selektions- und Evolutionsprozesse: Das Modell ist nur dafür ausgelegt, die spezifische Forschungsfrage zu beantworten.Mehr Infos zu dieser Studie...

Ausgangspunkt der Studie sind Beobachtungen im Tierreich: Mangusten, Buntbarsche, Vögel – bei zahlreichen Tierarten pflanzt sich in einer Gemeinschaft lediglich ein einziges dominantes Pärchen fort. Um dem Elternpaar höchstmöglichen Erfolg bei der Vermehrung zu sichern, unterstützt die restliche Gruppe die Brütenden: Sie schaffen Nahrung herbei, kümmern sich um den Nachwuchs und verteidigen das Revier. Von Darwins Evolutionstheorie wissen wir: Das höchste Ziel des Individuums ist die Weitergabe seiner Gene. Das kann durch Fortpflanzung geschehen, oder aber auch, indem man genetisch verwandte Artgenossen unterstützt – also die Familie. Forschende beobachten allerdings immer wieder Tiere, die nicht zur Familie gehören, sich aber trotzdem den Fortpflanzungsbemühungen einer Gruppe anschliessen. Scheinbar selbstlos unterstützen sie nicht verwandte Tiere. Ein Verhalten, dass der natürlichen Selektion widerspricht.

Für die Erhaltung der eigenen Gene kann es durchaus sinnvoll sein, anderen zu helfen.

Aber warum legen Individuen dieses altruistische Verhalten an den Tag? Hier setzt die Studie an: Mittels computergesteuerten Simulationen modellierten die Forschenden eine virtuelle Tierpopulation. Den Individuen ordneten sie dabei unterschiedliche Veranlagungen zur Hilfsbereitschaft zu. Danach beobachteten sie im Modell, welches Verhalten sich über viele Generationen durchsetzen würde – welche Verhaltensmuster also den grössten Selektionsvorteil bieten. Wie sich zeigte, kann altruistisches Verhalten von Vorteil sein. Denn grössere Gruppen sind unter den richtigen Umweltbedingungen erfolgreicher in der Vermehrung. Pflanzt sich das dominante Paar erfolgreich fort, vergrössert sich die Gruppe weiter. Damit sinkt das Risiko des Einzelnen, von einem Raubtier getötet zu werden. Das erhöht schliesslich die Chance auf eine spätere Fortpflanzung – auch des familienfremden Tiers: Wächst die Gruppe stark genug, kann es schlussendlich eine neue Gruppe gründen und sich fortpflanzen. Für die Erhaltung der eigenen Gene kann es also durchaus sinnvoll sein, anderen zu helfen.

«Wahren Altruismus gibt es unter Tieren nicht»

Wenn ein Tier einer Gruppe hilft, geschieht dies also nicht aus reiner Selbstlosigkeit. Ist das dann noch Altruismus? «Das ist eine Frage der Definition», gesteht die Verhaltensökologin Irene Garcia-Ruiz, Erstautorin der Studie, ein: «Echten Altruismus ohne Gegenleistung gibt es unter den Bedingungen der natürlichen Selektion nicht.» Schlussendlich strebt die Natur immer nach Reproduktion. Wenn ein Tier völlig selbstlos einem anderen hilft, würde es damit die eigenen Reproduktionschancen senken. Wahrhaftig altruistisches Verhalten würde unter dem Reproduktionsdruck mit der Zeit verschwinden, so Garcia.

«Schlussendlich bleibt alles natürliche Verhalten egoistisch», schliesst die Verhaltensbiologin. Dem Homo Sapiens sei also dieser kleine Erfolg gegönnt: Dadurch, dass menschliches Verhalten nicht mehr ausschliesslich der natürlichen Selektion wie im Tierreich unterliegt, kann sich der Mensch einen Freiraum für Konzepte wie «wahren» Altruismus schaffen. Wobei auch dies umstritten bleibt: Denn auch für selbstloses Handeln werden wir belohnt – mit Bestätigung, Ansehen, Glücksgefühlen oder Zuneigung. Ob der Mensch zu wahrem Altruismus fähig ist, bleibt daher eine philosophische Frage – genau wie die Frage, ob wir die Krone der Schöpfung sind.

Diesen Beitrag teilen
Unterstütze uns

regelmässige Spende