Wenn man Erfolg hat, ist immer auch Glück dabei, sagt Medizin-Nobelpreisträger Rolf Zinkernagel. Zum Beispiel sei es ein grosses Glück gewesen, dass seine Frau Kathrin 1973 bereit war, nach Australien umzuziehen. Beide waren sie damals 29 Jahre alt; sie hatten früh geheiratet, die Töchter Annelies und Christine zählten zweieinhalb Jahre und elf Monate – und Rolf Zinkernagel suchte einen Job.
Kennengelernt hatten sie sich an der Universität Basel, wo sie zusammen Medizin studierten. Kathrin spezialisierte sich in Augenheilkunde, Zinkernagel wollte Chirurg werden. Doch bald merkte er, dass dies nicht das Richtige für ihn war. Und so besuchte er zwischen zwei Anstellungen einen Kurs für experimentelle Medizin; ein in den 1960er Jahren für die Schweiz einzigartiges Angebot der Universität Zürich – und für Zinkernagel das Schlüsselerlebnis: Er wollte in die Forschung. Nach zwei Jahren am Institut für Biochemie der Universität Lausanne suchten Kathrin und er neue Stellen als wissenschaftliche Mitarbeiter. Mehr als fünfzig Bewerbungen hatte Zinkernagel geschrieben, bis endlich eine Zusage aus Australien kam. Und eben: Zum Glück sagte Kathrin «Ja» zu dem Abenteuer in Down Under.
«Es gibt im Leben zu viele Dinge, über die man sich aufregen könnte.»Rolf Zinkernagel, Immunologe und Nobelpreisträger
In Canberra bezog die junge Familie ein kleines Haus, das komplett eingerichtet war und der Australian National University gehörte. «Das machte den Anfang leicht», erinnert sich Zinkernagel. «Und ich konnte mich sogleich in die Arbeit stürzen.» Dann kam der Zufall ins Spiel. Denn eigentlich war der Schweizer Mediziner nach Australien gekommen, um mit einem Forscher namens Bob Landon über Tuberkuloseerreger, Salmonellen und Listerien zu forschen. Doch der Zufall führte ihn mit dem jungen Australier Peter Doherty zusammen. «Im Institut waren alle Labore voll besetzt. Einzig bei Peter war noch Platz», erzählt Zinkernagel. Es stellte sich heraus, dass Dohertys Forschung zu Infektionskrankheiten des Gehirns auch Zinkernagel faszinierte und dass umgekehrt der Schweizer immunologische Methoden beherrschte, die den Australier interessierten. Man plante ein gemeinsames Projekt. Ein weiterer Zufall war, dass in dem Institut mit einer grauen Mäuseart namens CBA gearbeitet wurde, die sonst in der Forschung nicht gebräuchlich ist. Die meisten Labore verwenden standardmässig so genannte Black Six-Mäuse, eine beinahe schwarze Rasse. «Hätten wir mit diesen experimentiert, hätten wir das Resultat nie gefunden», sagt Zinkernagel. Denn wie er erst einige Zeit später herausfand, funktioniert der Versuch nur mit den grauen Tieren.
Die Forschungsfrage, der er nachging, veranschaulicht Rolf Zinkernagel wie folgt: «Nach einer Transplantation werden Organe abgestossen; ausser der Vorgang findet zwischen eineiigen Zwillingen statt. Dies ist auf so genannte Transplantationsantigene zurückzuführen, die an den Oberflächen der Zellen sitzen und bei jedem Individuum anders sind. Das Immunsystem erkennt daran, was eigen und was fremd ist. Doch warum gibt es diese Antigene? Die Natur erfindet doch nichts, bloss um Chirurgen zu ärgern.»
Mit ihren Experimenten konnten die beiden Forscher zeigen, dass das Immunsystem bei der Abstossung nach einer Transplantation dieselben Abwehrmechanismen mobilisiert wie bei einer Virusinfektion. Dazu infizierten sie Mäuse mit Meningitis-Viren und studierten deren Immunreaktion. Nach fünf Monaten Arbeit hatten sie Resultate, die es auf Anhieb in die renommierteste aller Wissenschaftszeitschriften Nature schafften. Denn das Forscherduo hatte den Mechanismus entschlüsselt, mit dem das Immunsystem infizierte von gesunden Zellen unterscheidet. Einerseits erkennt es aufgrund der Transplantationsantigene an der Zelloberfläche, ob die Zelle zum eigenen Organismus gehört oder nicht. Andererseits identifiziert es ein Stück des eingedrungenen Virus, das aus der Zelle ragt. Und auch bei diesem zweiten Schritt spielen die Transplantationsantigene mit: Sie nehmen ein Stückchen des Virus auf und präsentieren es an der Zelloberfläche. Damit signalisieren sie dem Immunsystem: «Hier ist zwar eine eigene Zelle, aber sie ist infiziert. Sie muss abgestossen werden.» Dass diese Transplantationsantigene auch bei der Immunabwehr eine Rolle spielen, kam überraschend. Und die Entdeckung weckte Hoffnungen: zum Beispiel darauf, dass eine Impfung gegen Krebs in Zukunft möglich sein könnte. Allerdings haben sich diese Hoffnungen bis heute kaum erfüllt. Zinkernagel nimmt es gelassen. «Es gibt im Leben zu viele Dinge, über die man sich aufregen könnte», sagt er. «Es ist einfach so. Bedauern und Zurückblicken bringt nichts.»
Familie Zinkernagel fühlte sich wohl in Canberra. Kathrin fand eine Teilzeitstelle als Augenärztin, das dritte Kind, Martin, kam zur Welt. Doch nach zweieinhalb Jahren lief das Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds aus, und so kam ein Angebot vom renommierten Scripps Research Institute in Kalifornien gerade recht. Von 1976 bis 1979 arbeitete Zinkernagel dort als Professor, dann entschied sich die Familie, wieder in die Heimat zurückzukehren, um die Kinder in der Schweiz einzuschulen.
«Wir Wissenschaftler sagen generell viel zu wenig, was wir tun.»Rolf Zinkernagel.
Rolf Zinkernagel kam an die Universität Zürich und baute später am Universitätsspital das Institut für experimentelle Immunologie auf. Zusammen mit dem Molekularbiologen Hans Hengartner forschte er dort 32 Jahre lang. Wieder war es ein Duo aus zwei klugen Köpfen, das zusammenspielte.
Zwar wusste Zinkernagel immer, dass seine als junger Wissenschaftler gewonnenen Erkenntnisse enorm wichtig waren. Trotzdem überraschte ihn der Telefonanruf, der ihn am 7. Oktober 1996 um 11.20 Uhr im Labor erreichte. «Das Nobelpreiskomitee gab mir zehn Minuten, um meine Familie zu informieren.» Dann wurde die Nachricht weltweit verbreitet.
Gross verändert habe ihn der Nobelpreis nicht, sagt Zinkernagel. Doch immerhin gab er ihm kraft seiner Würde eine öffentliche Stimme. Zum Beispiel 1999 im Abstimmungskampf um die sogenannte Genschutz-Initiative, welche das Ziel hatte, strengere Vorschriften «zum Schutz von Leben und Umwelt vor Genmanipulation» einzuführen. Doch diese hätten die Wissenschaft, so Zinkernagel, allzusehr eingeschränkt. Darum marschierte er mit Transparenten und Hunderten von Kollegen durch die Zürcher Bahnhofstrasse. Demonstrierende Forscher – ein einmaliges Bild. Unvergessen auch Rolf Zinkernagels fünfjähriges Engagement als Kolumnist in der Boulevardpresse. Für den Blick schrieb Zinkernagel eine Serie von Texten über Forschungsthemen. «Das war ein Versuch, die Wissenschaft dem breiten Volk näher zu bringen», sagt er. «Wir sagen generell viel zu wenig, was wir tun.» Ob es allerdings etwas gebracht habe, weiss er nicht. Immerhin wurde die Initiative an der Urne abgelehnt.
«10vor10»-Beitrag vom 19. Februar 1998 zur Genschutz-Initiative
Fortan galt Zinkernagels Engagement der Forschungspolitik: im Europäischen und im Schweizer Wissenschaftsrat. Hier setzte er sich für die Förderung der Exzellenz ein und für das «Besser-Sein», wie er es nennt. «Nicht nur schwache Schüler brauchen Unterstützung », sagt er. Es sei wie im Sport: «Niemand käme auf die Idee, Olympia-Athleten nicht mehr zu fördern, nur weil sie schon top sind.» Genau so habe das auch die Wissenschaft nötig. Der Wissenschaftsstandort Schweiz könne seine Position und damit auch seine Wichtigkeit für die Volkswirtschaft nur behaupten, wenn man vor allem in die Exzellenz investiere.
2008 wurde Rolf Zinkernagel pensioniert und seine Labore geschlossen. Der Name Zinkernagel bleibt der Immunologie im Speziellen und der Medizin im Allgemeinen erhalten. Tochter Annelies ist Infektiologin am Universitätsspital Zürich, Sohn Martin leitet die Augenpoliklinik am Inselspital Bern, Tochter Christine arbeitet als Psychiaterin in Basel.
Zinkernagel selbst hat sich nach der Pensionierung auf Neues gefreut, begann Cello zu spielen. Denn Saiteninstrumente hatten ihn schon immer fasziniert – und durchs Leben begleitet. Seine Frau war ausser Augenärztin auch eine hervorragende Bratschistin. Doch zu einem Duett sollten die beiden nicht mehr kommen. Zwei Jahre nach seiner Pensionierung verstarb Kathrin an einer Krebserkrankung. «Ja, daran könnte man zugrunde gehen», sagt er. «Aber ich versuche auch jetzt, nach vorne zu blicken.» So hat er auch im Alter von 70 Jahren die Ziele noch hoch gesteckt. Seine Bergtouren nennt er «interne Qualitätskontrolle» und fügt lachend bei: «Es gibt noch manchen 4000er.»