Benedikt Meyer
Benedikt Meyer ist Historiker und Autor. Mit «Im Flug» hat er die erste wissenschaftliche Geschichte der Schweizer Luftfahrt geschrieben, mit «Nach Ohio» seinen ersten Roman veröffentlicht. Bei higgs erzählt er in der «Zeitreise» jeden Sonntag Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catherine Reponds tragischem Ende und von Henri Dunant bis zu Iris von Roten.
Der 25. August 1925 war ein gewöhnlicher Mittwoch, aber in den Dörfern rund um Zürich ereignete sich etwas komplett Neues. Motorisierte Lastwagen (eine Variante des berühmten Ford Model T) kamen rumpelnd herangeschnaubt und hielten auf den Dorfplätzen oder am Strassenrand an. Die Fahrer stiegen aus, klappten eine Seitenwand hoch und boten mitten im Dorf ihre Waren an: Kaffee, Reis, Zucker, Teigwaren, Kokosfett und Seife. Ausgesandt hatte die Lastwagen Gottlieb Duttweiler, der Mann hinter der Migros.
Güter des täglichen Bedarfs hatten die Leute bislang stets auf den Märkten gekauft, in kleinen Krämerläden oder beim «Allgemeinen Konsumverein». Diese später als «Coop» bekannte Genossenschaft fusste auf der Erkenntnis, dass Güter billiger zu haben waren, wenn sich die Konsumenten zusammenschlossen, um sie zu kaufen. Kernidee der Migros hingegen war es, die Zwischenhändler zu umgehen und die Hausfrauen möglichst direkt anzusprechen. Mittels Verkaufsbussen, tiefen Preisen, einem immer grösseren Sortiment und bald auch mit eigenen Läden.
Das Gewerbe reagierte heftig. Kunden wurden beschimpft oder am Einkaufen gehindert und mehrere Branchen weigerten sich, die Migros überhaupt zu beliefern. Duttweiler eröffnete darum immer mehr eigene Produktionsstätten. Und nicht nur das: der Lebensmittelhändler wurde über die Jahre zum Konzern, der bald ein Reisebüro (1935), zwei Zeitungen (1935; 1942), Klubschulen (1944), Parks (1946), Buchhandlungen (1950), Tankstellen (1957), eine Bank (1957), Versicherungen (1958) und vieles mehr umfasste.
Das Spannendste an der Migros war aber Duttweiler selbst. Seit 1935 politisierte er im Parlament und eckte mit seiner Partei links und rechts an. Er forderte das Frauenstimmrecht und als einer seiner Vorstösse wiederholt nicht behandelt wurde, warf er 1948 mit Steinen zwei Fenster des Bundeshauses ein. Nicht alles, was «Dutti» anpackte, gelang. Die Expansion ins Ausland missriet (mit Ausnahme von Migros Türk) und als er sich 1955 aus politischem Protest im Entrée des IKRK zu Tode hungern wollte (es ging ihm um eine Abfindung für kriegsgeschädigte Auslandschweizer), gab er nach drei Tagen auf.
Sein vielleicht ungewöhnlichster Erfolg gelang ihm 1941 mit dem von ihm initiierten Film «Marie-Louise». Die Geschichte eines französischen Flüchtlingsmädchens erhielt als erster nicht englischsprachiger Film einen Oscar.
Duttweiler suchte – und schaffte – den Spagat zwischen wirtschaftlichem Profit und sozialer Verantwortung. Alkohol und Tabak verkaufte der passionierte Zigarrenraucher nie, 1941 verwandelte er seine AG in eine Genossenschaft und 1957 verpflichtete er sie, ein Prozent des Umsatzes für Kultur, Bildung und Soziales auszugeben. Geld habe nur einen Sinn, wenn man es ausgeben könne, meinte Dutti. Und: «Die Langweiler sind auf der Welt die grössten Sünder.»