Den Text vorlesen lassen:

Die Bilder aus der Ukraine sind nicht auszuhalten. Doch auch Pandemien und grosse Wirtschaftseinbrüche führen, wenn auch in geringerem Ausmass, zu menschlichem Leid und ökonomischen Kosten. Die direkten und unmittelbaren Auswirkungen von Krisen auf die öffentliche Gesundheit und die Wirtschaftstätigkeit sind meist offensichtlich und können – mit etwas zeitlicher Distanz – relativ einfach gemessen werden. Eine adäquate Wirtschaftspolitik hilft, zumindest die ökonomischen Schäden zu begrenzen.

Krisen haben allerdings auch indirekte langfristige Folgen auf die Gesundheit, die beruflichen Chancen und Einkommensmöglichkeiten der Menschen. Erstens verursachen sowohl Pandemien – aktuell zum Beispiel in Form von Long Covid – als auch andere Krisen – zum Beispiel wegen Unterernährung und Stress – gesundheitlichen Einschränkungen, welche die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Menschen langfristig einschränken können. Zweitens lösen Krisen Ängste und Verhaltensänderungen aus, welche lange nachwirken und ökonomische Ergebnisse nachhaltig beeinträchtigen können.

Monika Bütler

Die Ökonomin Monika Bütler ist Honorarprofessorin an der Universität St. Gallen, bis Januar 2021 war sie dort ordentliche Professorin für Volkswirtschaftslehre. In ihrer Forschung beschäftigte sie sich unter anderem mit der Altersvorsorge und politischen Ökonomie. Sie beteiligt sich häufig an der öffentlichen Debatte zu wirtschaftlichen und politischen Themen.

Im Gegensatz zu den kurzfristigen Auswirkungen von Krisen erhalten deren langfristigen Folgen wenig Aufmerksamkeit. So verstehen wir die potenziellen langfristigen Folgen endemischer Viren auf das – Achtung Ökonomiejargon – Humankapital der Bevölkerung und deren wirtschaftliche Folgen kaum. Auf den zweiten Blick überrascht die Wissenslücke weniger. Es ist nämlich statistisch sehr schwierig, die indirekten Auswirkungen von Krankheiten eindeutig zu identifizieren. Wenn zum Beispiel eine von der Pandemie betroffene Generation mehr Mühe hat auf dem Arbeitsmarkt, ist dies nicht notwendigerweise die Folge der Erkrankungen, es könnte auch mit einer schlechten Konjunktur zusammenhängen. Und oft sind es mehrere Ursachen, die zusammenwirken.

Glücklicherweise haben in den letzten Jahren eine Reihe von cleveren Studien mit neuen Methoden und detaillierten Daten zu einem besseren Verständnis bleibender Folgen von Krisen beigetragen.

Mehr Atemwegserkrankungen, schlechtere Chancen in Bildung und Beruf

Mit dem Übergang der Covid-19-Krise von einer Pandemie zu einer Endemie ist die Frage nach den langfristigen ökonomischen Folgen endemischer Viren gerade sehr aktuell. Eine neue Forschungsarbeit schafft es, mit fantastischen Daten und einem interessanten Kniff die Frage teilweise zu beantworten. Die international zusammengesetzte Forschungsgruppe untersuchte die Tatsache, dass Wahrscheinlichkeit schwerer Atemwegserkrankungen in der frühen Kindheit je nach Geburtsreihenfolge stark unterschiedlich ist. Dazu wertete das Team Verwaltungsdaten der gesamten dänischen Bevölkerung der Jahrgänge 1980 bis 2015 aus. Zweitgeborene landen im ersten Lebensjahr zwei- bis dreimal häufiger wegen Atemwegserkrankungen wie zum Beispiel durch das Respiratorische-Synzytial-Virus (RSV) im Spital als Erstgeborene im gleichen Alter. Dies weil sie durch ihre Geschwister früher und verstärkt den Krankheitserregern ausgesetzt werden. Die erhöhte Exposition gegenüber Viren und Bakterien im Säuglingsalter führt bei Zweitgeborenen kausal zu schlechterem Erfolg in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt. So haben sie weniger häufig einen Hochschulabschluss und verdienen im Alter von dreissig durchschnittlich 1,3 Prozent weniger.

Zwar profitieren Zweitgeborene im späteren Leben von einer tieferen Hospitalisierungsrate wegen Atemwegserkrankungen, doch die frühe Immunitätsbildung kompensiert die schlechteren späteren wirtschaftlichen Chancen nicht. Somit erklärt die Zirkulation endemischer Viren den schon lange bekannten und noch wenig verstandenen Nachteil später geborener Kinder mindestens teilweise.

Krisen können Verhaltensänderungen auslösen, welche lange nachwirken und unser Leben nachhaltig beeinträchtigen können.

Krisenerfahrung beeinflusst künftiges Verhalten

Grosse Krisen beeinflussen auch die Risikowahrnehmung und folglich die individuellen Entscheidungen der Menschen – und zwar langfristig. Wer hohe Aktienmarktrenditen erlebt hat, ist im weiteren Leben weniger risikoscheu und investiert häufiger in riskante, aber ertragreichere Vermögenswerte, wie die Ökonomin Ulrike Malmendier und Stefan Nagel zeigten. Dies hat langfristige Auswirkungen auf Vermögen und Vorsorge.

Manchmal muss ein Mensch eine Krise nicht mal selbst erlebt haben, schon die blosse Beobachtung eines wirtschaftlichen Einbruchs kann den Blick in die Zukunft trüben. Dies konnten drei italienische Forschende um Luigi Guiso in einem Experiment nachweisen. Offenbar sind es die von einer Krise ausgelösten Ängste, welche die Verhaltensanpassungen auslösen.

Anhand von finnischen Angestellten konnte gezeigt werden, dass Menschen, die während der Finanzkrise einen ungünstigen Arbeitsmarkt erlebten, deutlich weniger in riskante, aber auch profitable Anlagen investierten, obwohl sie nicht von sinkenden Einkommen betroffen waren. Und die indirekten Effekte der Krise erstrecken sich sogar auf soziale Netzwerke. Menschen, deren Nachbarn oder Familienmitglieder negative Erfahrungen hatten, vermeiden riskante Investitionen ebenfalls.

Unsere eigene Forschung liefert Evidenz für einen indirekten Kanal bei Pensionierungsentscheidungen, zum Beispiel der Wahl zwischen Rente und Kapital. Die Finanzkrise 2008 betraf die exportorientierten Branchen der Schweiz aufgrund ihrer Abhängigkeit von der weltwirtschaftlichen Entwicklung deutlich stärker als andere Branchen. Gleichzeitig sind Personen kurz vor dem Ruhestand durch die Festsetzung der Mindestverzinsung und des Umwandungssatzes weitestgehend vor Verlusten geschützt. Dennoch finden wir mit Daten einer grossen Schweizer Versicherung, dass die Angestellten in den exportorientierten Branchen – trotz fehlender direkter Effekte – sich nach der Krise signifikant häufiger für die sicherere Version Rente entschieden. Was in diesem Fall wenigstens nicht negativ ist.

Zu wenig Augenmerk auf langfristige Ausrückungen von Krisen

Während die Politik gewohnt und in der Zwischenzeit ziemlich geschickt ist, mit direkten Folgen grosser Krisen umzugehen, bleiben die indirekten langfristigen Auswirkungen – seien sie gesundheitlich oder ökonomisch – noch weitgehend unbeachtet. Dabei lohnt es sich gerade auch ökonomisch, die negativen langanhaltenden Folgen von Krisen einzudämmen. Im Falle gesundheitlicher Folgen – Pandemie – sind es die momentan viel diskutierten Massnahmen: Reduktion von Expositionen, Investitionen in Impfungen, Medikamente und vieles mehr. Die indirekten Folgen von durch Krisen ausgelösten Verhaltensanpassungen sind subtiler, deren Folgen noch wenig erforscht. Sie sind dennoch relevant, weil sie oft Menschen mit tieferen Einkommen stärker treffen.

Wer die langen Schatten von Krisen verstehen und bekämpfen will, braucht somit – wie eigentlich immer: Geeignete Daten und sorgfältige Studien.

Klartext

Sechs hochkarätige Forscherinnen und Forscher schreiben im «Klartext» pointiert und faktenbasiert ihre Meinung zu einem selbst gewählten wissenschaftlichen Thema. Das wissenschaftliche Sextett setzt sich zusammen aus Dominique de Quervain, Neurowissenschaftler (Uni Basel), Sophie Mützel, Soziologin (Uni Luzern), Martin Röösli, Umweltepidemiologe (Swiss TPH), Monika Bütler, Ökonomin (Uni St. Gallen), Klimaforscher Reto Knutti (ETH Zürich) sowie Nikola Biller-Andorno, Professorin für Biomedizinische Ethik (Universität Zürich).
Alle Beiträge anzeigen
Diesen Beitrag teilen
Unterstütze uns

regelmässige Spende