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Vor laufender Kamera und sehr feierlich haben sie ihre Unterschriften unter das Dokument mit dem Namen «Great Barrington Declaration» gesetzt und fordern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf der ganzen Welt auf, ebenfalls zu unterzeichnen.

Die Forderung ist die folgende: Die generellen Einschränkungen gegen die Corona-Pandemie sollen aufgehoben werden: Restaurants, Museen, Kulturplätze sollen wieder ohne Restriktionen zugänglich sein, junge Leute sollen wieder in die Schule, auf die Strasse in die Clubs zum Tanzen. Kurz, wir sollen so rasch wie möglich wieder zurück zum normalen Leben. Angestrebt wird die allmähliche Infektion der ganzen Gesellschaft bis eine Herdenimmunität aufgebaut ist. Geschützt werden sollen nur besonders verletzliche Personen.

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Der Vorschlag ist verlockend. Wollen wir das nicht alle? Zurück zu «normal». Und immerhin kommt die Idee von Wissenschaftlern, scheint also seriös zu sein. Leider ist sie aber Wunschdenken. Dies zeigen die Reaktionen vieler anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Die Barrington Declaration hat viele Schwächen:

Schwäche eins: Die Idee der kontinuierlichen Durchseuchung, beziehungsweise die natürliche Immunisierung. Niemand weiss, wie lange es dauert, bis die Herdenimmunität aufgebaut ist. Und niemand weiss, wie gut der Immunschutz ist, wenn jemand Covid-19 einmal durchgemacht hat. Damit wird eine kontinuierliche Durchseuchung zum unberechenbaren Experiment – vielleicht zu einem unbeherrschbaren. Denn die aktuell überall in die Höhe schnellenden Infektionszahlen zeigen, wie schwierig es ist, die Situation zu kontrollieren.

Abgesehen davon machen wir ja genau das, was die Initianten des Appells fordern. Wir lockern die Massnahmen kontinuierlich, bis wir sehen, dass es zu viel war und da und dort wieder einschränken müssen. Und aktuell nehmen ja auch nicht bloss vermeintlich harmlose Infektionen jüngerer Menschen zu. Auch die Zahlen der Hospitalisierungen steigen momentan wieder tüchtig an.

Schwäche zwei: Die Langzeitwirkungen von Covid-19 – diese blenden die Initianten der Deklaration aus. Sie argumentieren alleine mit der Todesfallraten. Was aber nicht zulässig ist. Wir kennen einige der Langzeitwirkungen, aber bei weitem nicht alle. Weil die Krankheit eben noch sehr jung ist.

Schwäche drei: Die Verletzlichen schützen. Das machen wir ja jedes Jahr, wenn die Grippewelle wieder anrollt. Wir nehmen Rücksicht auf ältere Menschen, husten einander nicht ins Gesicht und lassen uns vernünftigerweise impfen. Gegen Sars-CoV-2 gibt es aber noch keine Impfung. Und damit fällt eine wichtige Säule der Prävention schon mal weg.

Schwäche vier: Wer sind die Verletzlichen? Und das scheint mir das Hauptargument gegen den Vorschlag der gelenkten Durchseuchung zu sein. Sind es die Alten? Die Hochbetagten? Wo liegt die Altersgrenze. Sperren wir einen topfiten 86-Jährigen ein, und überlassen eine 60-jährige Diabetikerin ihrem Schicksal?

Und wenn wir die Alten und Kranken schützen, kommen dann die jungen Diabetiker? Was ist mit den Herz-Kreislauf-Patienten, den Immunschwachen, den Übergewichtigen? Ab welchem BMI darf jemand nicht mehr auf die Strasse, in die Schule, in den Club?

Die Kritiker der Declaration sagen, so etwas sei juristisch nicht zu regeln und schon gar nicht logistisch umzusetzen. Und vor allem: solche Regeln führen zu Ausgrenzung und Separierung grosser Gruppen von Mitmenschen.

Obschon die Declaration von «gezieltem Schutz» spricht, vermeidet sie es, eine sehr grosse «besonders verletzliche Gruppe» zu erwähnen. Die Kritiker aber weisen darauf hin: Auch dunkelhäutige Menschen erkranken schwerer und sterben häufiger an Covid-19 als Weisse. Was die Gründe dafür sind, spielt überhaupt keine Rolle.

Aber, sollen Schwarze weggesperrt werden? Wer die Idee von «Verletzliche schützen» zu Ende denkt, kommt von Separierung zu Diskriminierung und schliesslich zu Rassismus. Das im Namen der Pandemiebekämpfung. Darum nennen Kritiker der Declaration, der Vorschlag des «gezielten Schutzes» sei unethisch.

Was wir jetzt brauchen sind nicht Regeln und Strategien, die separieren und diskriminieren, sondern solche, die für alle gelten. Das Virus hat die Gesellschaft schon genug gespalten. Jetzt zählt einzig Solidarität.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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