Benedikt Meyer


Benedikt Meyer ist Historiker und Autor. Mit «Im Flug» hat er die erste wissenschaftliche Geschichte der Schweizer Luftfahrt geschrieben, mit «Nach Ohio» seinen ersten Roman veröffentlicht. Bei higgs erzählt er in der «Zeitreise» jeden Sonntag Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catherine Reponds tragischem Ende und von Henri Dunant bis zu Iris von Roten.

«Das Heidi hüpfte und jauchzte und der Grossvater sah aus, als sei ihm ein grosses Glück widerfahren.» Heidi. Das Heidi. Äs. Keine andere Schweizer Figur ist bekannter, keine erfolgreicher, als das Mädchen aus Maienfeld. Das erste, 1879 erschienene Buch endete im kalten, grauen Frankfurt – der zweite Band führte 1881 zurück in die heile Bergwelt.

Johanna Spyri war eine unwahrscheinliche Autorin für einen Welterfolg. Nicht genug damit, dass sie eine Frau war, obendrein veröffentlichte sie bis zum 44. Altersjahr auch keinen einzigen Text. Ihr Privatleben war durchzogen von Depressionen, einer unglücklichen Ehe, ihrem Unwohlsein in der Stadt Zürich und dem frühen Tod ihres Sohnes. Das Schreiben gab ihr Kraft, ihr erstes Büchlein wurde ein Überraschungserfolg. Acht Jahre drauf folgte Heidi.

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Heidi, die Bibel, das Kapital: Es gibt Texte, die jeder kennt und keiner gelesen hat. Heidi haftet das Image der romantischen Alpenverklärung an und das ist nicht komplett falsch. Aber es ist auch nicht völlig richtig. Das Buch entstand in einer Zeit der rasenden Industrialisierung. Viele Leute verstanden die Welt nicht mehr und wurden wirtschaftlich abgehängt. Im ersten Band portraitierte Spyri die moderne Welt schmutzig, unschmeichelhaft und durchaus korrekt. Auch Heidi gefiel es in Frankfurt nicht – und doch machte das Kind dort wichtige Erfahrungen. Folglich hiess der zweite Band dann: «Heidi kann brauchen, was es gelernt hat.»

Heidis Grossvater, der Alpöhi, und ihr Freund Peter skizzierte Spyri zwar als schrullig-liebenswürdige Charaktere, aber auch rückwärtsgewandte Dummköpfe. Heidi, die in Frankfurt lesen gelernt hat, bringt Peter zurück in die Schule. Für dessen Grossmutter organisiert sie ein weiches Bett aus der Stadt. Und den Alpöhi führt sie dank des Betens zurück in die Dorfgemeinde (Spyri war tief religiös). «Heidi» dreht sich nicht um die Abkehr von der Moderne, sondern um die Versöhnung mit ihr. Wenigstens im Original.

Heidi wurde zum internationalen Erfolg. Spyris Buch wurde in über 50 Sprachen übersetzt und über 50 Millionen Mal verkauft. Und gerade die filmischen Adaptionen aus Japan und den USA machten aus Heidi die wohl weltweit berühmteste Schweizerin. Frisch, Dürrenmatt, Cendrars, de Staël: Johanna Spyri stellte alle in den Schatten. Auch das zweiterfolgreichste Schweizer Buch ist übrigens ein Kinderbuch: «Der Regenbogenfisch» von Marcus Pfister.

Digital in die Vergangenheit


Dieser Beitrag erschien erstmals auf dem Blog des Schweizerischen Nationalsmuseums.

Der Blog des Schweizerischen Nationalmuseums publiziert regelmässig Artikel über historische Themen. Diese reichen von den Habsburgern über Auslandschweizer bis hin zu heimischer Popmusik, die es zu Weltruhm gebracht hat. Der Blog beleuchtet viele Facetten der Landesgeschichte in den Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch. Mehr dazu gibt es unter: blog.nationalmuseum.ch

Zeitreise

In der «Zeitreise» erzählt der Historiker und Autor Benedikt Meyer Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catillons tragischem Ende und von Henri Dunant bis Iris von Roten. Die Serie erschien erstmals bei Transhelvetica und auf dem Blog des Schweizerischen Nationalmuseums.
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