Meistens tauchten die sonderbaren Gestalten nachts in den Strassen von Zürich auf: ein dürrer Mann, der um eine Häuserecke lugte. Ein Gesicht, das aus einer Lüftungsklappe starrte. Eine dünne Frau mit riesigen Brüsten, die in einem dunklen Hauseingang lauerte.

Schöpfer der eigenartigen Figuren war ein unbekannter Sprayer, der 1977 begonnen hatte, die Stadt im Schutze der Dunkelheit mit Zeichnungen aus seiner Sprühdose zu bevölkern. «Es war ein Protest gegen die Unwirtlichkeit der Städte, der Architektur», sagt der inzwischen Künstler heute.

Karlheinz Essl

Harald Naegeli bei einer Sprayaktion während des Graffiti-Kongresses im Wiener Museumsquartier (2006).

Für die Stadt Zürich war es damals jedoch nichts als Schmiererei. Graffiti waren in Europa noch weit weniger verbreitet als in den USA – entsprechend hielt sich die Begeisterung über die Wandbilder in Grenzen: Hunderte Anzeigen wegen Sachbeschädigung gingen bei der Zürcher Polizei ein. Sie setzte 3000 Franken Belohnung auf die Ergreifung des «Sprayers von Zürich» aus.

Ein Nachtwächter war es, der schliesslich im Mai 1979 den Übeltäter auf frischer Tat ertappte. Im Handgemenge schaffte der Sprayer es zwar, sich dem Griff des Wachmanns zu entwinden, verlor aber seine Brille. Ein verhängnisvolles Missgeschick: Als er wenig später zurückkehrte, um nach ihr zu suchen, erwartete ihn bereits die Polizei. Das sprühende Phantom von Zürich war enttarnt – als der 39 Jahre alte Harald Naegeli.

Doch anders als erhofft, sollte es der Schweizer Justiz nicht gelingen, Naegelis Schaffen mit der Verhaftung einen Riegel vorzuschieben. Denn mit dessen Festnahme begann ein spektakulärer Rechtsstreit, der ihn weit über seine Heimat hinaus berühmt machte. Und eine europaweite Verfolgungsjagd, die die Beziehungen zwischen der Eidgenossenschaft und Deutschland auf eine harte Probe stellte.

Naegeli zeigte sich von der Anklage der Staatsanwaltschaft reichlich unbeeindruckt. Während des laufenden Prozesses floh er kurzerhand vor der Schweizer Justiz nach Deutschland – um dort weiterzusprayen: In Frankfurt, Köln und Stuttgart tauchten seine Werke auf. Maskiert gab er Interviews, ein offizielles Gutachten bescheinigte ihm «eine zweifellos künstlerisch begabte Persönlichkeit». Trotzdem verurteilte ihn das Bezirksgericht Zürich 1981 in Abwesenheit zu sechs Monaten Haft auf Bewährung.

Naegeli kommentierte damals im Spiegel, er halte die Verurteilung für den Beleg «einer geistigen Bankrotterklärung». Mehrfach legte er Berufung ein. Vergebens. Aus sechs Monaten wurden neun – ohne Bewährung. Dazu kam eine Geldstrafe von 100 000 Franken. Das Gericht begründete die harte Strafe damit, dass Naegeli es verstanden habe, «über Jahre hinweg mit beispielloser Härte, Konsequenz und Rücksichtslosigkeit die Einwohner von Zürich zu verunsichern».

Unerwartete Unterstützung bekam der Sprayer von der deutschen Kunstszene um Joseph Beuys. Der Kölnische Kunstverein stellte die Werke des Verurteilten in einer Fotoausstellung aus, die Stadt Oldenburg wünschte sich Naegelis Strichmännchen auf ihre Mauern, ein Kunstbuchverlag veröffentlichte ein Buch über ihn. In Bonn erhielt der Künstler gar den Auftrag, eine Betonwand der SPD-Zentrale zu besprühen.

Wikimedia Commons/Kürschner

Ein «Harald Naegeli» an der Oberkasseler Brücke in Düsseldorf (2016).

Doch die deutsche Begeisterung beeindruckte die Schweizer Behörden wenig. Sie schrieben den Sprayer von Zürich zur Fahndung aus, es folgte ein internationaler Haftbefehl. Naegeli erinnert sich: «Es wurde mir bewusst, dass ich etwas politisch Relevantes gemacht hatte. Welcher Künstler wird schon wegen seiner Kunst ins Gefängnis gesteckt?» Naegeli hatte sich eine brisante Zeit zum Sprühen ausgesucht: Ende der Siebziger brachen in den Schweizer Grossstädten die Jugendunruhen aus, junge Menschen gingen gegen den Kapitalismus auf die Strasse, hinterfragten Rechtsstaat und Demokratie und lieferten sich brutale Schlachten mit der Polizei. «Eigentlich war ich der Vorläufer der Jugendunruhen in Zürich. Dabei war es bei mir vor allem ein ästhetisches Unbehagen», sagt der Sprüher.

Naegeli, der auch nach dem Urteil nicht daran dachte, sich den Behörden zu stellen, blieb in Deutschland. «Es war ein Leben auf der Flucht», so der Künstler. «Ich hatte Freunde und Unterstützer in Deutschland und Italien. Immer wieder musste ich im billigsten Hotel Unterschlupf finden.»

Sein Leben als Star auf der Flucht währte 18 Monate. Mit einem neuen Computerfahndungssystem wurde er am 27. August 1983 in einem Zug auf dem Weg von Kopenhagen nach Düsseldorf an der deutsch-dänischen Grenze festgenommen – von deutschen Beamten. «Als ich verhaftet wurde, dachte ich, dass das Ganze in zwei Wochen vergessen sein wird», so Naegeli. Künstler, die sich mit ihm solidarisiert hatten, verurteilten die «Menschenjagd», Museumsdirektoren und Kunsthallen in ganz Deutschland protestierten.

Stadtmuseum Siegburg

«Pegasus» im Stadtmuseum Siegburg, Nordrhein-Westfalen.

Und tatsächlich: Unter Auflagen und gegen eine Kaution von 40 000 Mark kam Naegeli wieder auf freien Fuss; mehrere Monate berieten deutsche Politiker und Gerichte über eine Auslieferung an die Schweiz. Willy Brandt schrieb an Aussenminister Hans-Dietrich Genscher: «Ich würde es begrüssen, wenn die Bundesregierung einen Weg findet, die Schweiz dazu zu bewegen, von ihrem Auslieferungsersuchen Abstand zu nehmen.» Es half nichts, am 1. Dezember 1983 erklärte das Oberlandesgericht von Schleswig-Holstein die Auslieferung Naegelis für rechtlich zulässig. Bis zum 24. April 1984 sollte er sich den Schweizer Behörden stellen.

In Deutschland und der Schweiz entbrannte ein Glaubenskrieg. Während Kunstbegeisterte in Naegeli einen «neuzeitlichen Till Eulenspiegel» sahen und eine Hamburger Kultursenatorin ihn sogar zum «lebenden Kunstwerk» erklärte, verdammten andere seine Arbeit als blossen Vandalismus. Ein Leserbriefschreiber verglich ihn mit einem «Hund, der die Strasse beschmutzt».

Am 24. April 1984, um 14 Uhr, lieferte sich der Künstler freiwillig an die Schweizer Behörden aus. Joseph Beuys und eine Schar Journalisten begleiteten ihn an die Grenze bei Lörrach. Bevor Naegeli an die Basler Polizei übergeben wurde, besprühte er noch ein Zollhäuschen auf der deutschen Seite. «Das war eine kleine Performance, eine Inszenierung.» Heute schüttelt Naegeli den Kopf darüber.

Der Medienrummel um seinen Haftantritt machte Naegeli zu einer Marke; Künstler widmeten ihm Vorträge und Veröffentlichungen, riefen um Spenden für seine Geldstrafe auf. Beuys echauffierte sich: «Jetzt wird der Sprayer von Zürich, diese Urfigur des Freiheitssinns, in die würdelose Lage von einer halben Stunde (pro 24 Stunden) Hofgang und einer Stunde pro Woche Besuchszeit versetzt».

In einem persönlichen Brief bot der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt dem Inhaftierten künstlerisches Asyl an – mit einem Vergleich zur NS-Zeit: «Nirgendwo sind falsche Parallelen weniger angebracht als hier; aber wenn es einmal Deutschland wäre, das einem Schweizer Bürger das Empfinden von Geborgenheit geben könnte, würde mich das freuen angesichts einer düsteren Geschichte, die eher davon weiss, dass Deutsche Zuflucht in der Schweiz suchten.»

Sebastian Bertalan

Die «Fischfrau» am Fürstenplatz in Düsseldorf (2006).

Der Künstler sass seine Strafe ab und liess sich dann in seiner Wahlheimat Deutschland nieder. Es sollte nur wenige Jahre dauern, bis ein «echter Naegeli» für 6500 Franken gehandelt wurde. 2004 befand schliesslich sogar die Zürcher Baudirektion ein Spraybild von Naegeli für schutzwürdig: Das Werk Undine am Deutschen Seminar der Universität wurde restauriert und erhalten.

Und dennoch: Richtig verstanden fühlt sich Naegeli bis heute nicht: «Ich habe damals eine immens politische Aussage gemacht. Man hat immer nur den kriminalistischen und juristischen Aspekt gesehen; das eigentlich Revolutionäre hat man gar nicht verstanden. Dass die Zeichnungen vom Papier plötzlich in den öffentlichen Raum eintraten, dass da eine ästhetische Veränderung des Sehens und Denkens stattfindet, das hat man bis heute nicht kapiert. Jetzt gibt es Abertausende von Sprayern in ganz Europa. Aber als ich die ersten Arbeiten sprühte, gab es so gut wie keine Graffiti, die Wände waren nahezu leer.»

Seine Revolution liegt nun lange zurück. Aber «im Alter bin ich erst recht glücklich, ob der neuen Ideen und meiner wachsenden Meisterschaft», sagt er, der heute in Düsseldorf und Zürich lebt. Ob er noch sprayt? Er antwortet verschmitzt: «Die Kunst bleibt für immer ein Rätsel.»

Dieses Porträt stammt aus dem Buch «Zürcher Pioniergeist» (2014). Es porträtiert 60 Zürcherinnen und Zürcher, die mit Ideen und Initiative Neues wagten und so Innovationen schufen. Das Buch kann hier bestellt werden.
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