«Der Streit um den Wolf ist ein Stellvertreterkonflikt.» Dieser Aussage begegnet man oft, wenn man mit Menschen in der Schweiz spricht, die sich in ihrem Alltag beruflich oder privat mit den Wölfen auseinandersetzen. Damit wird üblicherweise erklärt, warum die Debatten rund um die Rückkehr dieses Wildtiers so hohe Wellen schlagen, obwohl die Beutegreifer doch scheinbar nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung ein direktes Problem darstellen.
Doch beim Wolf geht es eben um noch mehr. In seinem Windschatten werden alte und neue Konflikte ausgespielt, Probleme reformuliert und politische Forderungen gestellt, Interessen definiert und Grenzen aktualisiert, demografische Entwicklungen und gesellschaftliche Verhältnisse neu thematisiert. Der Beutegreifer hält die Schweiz auf Trab.
«Die da oben in Bern» schicken Wölfe
Ein Beispiel dafür, wie der Wolf schweizerische Debatten neu auf den Tisch bringt, ist ein Plakat der im Wallis eingereichten Initiative «Für einen Kanton Wallis ohne Grossraubtiere». Es zeigt die Umrisse des Kantons. Innerhalb dieser Umrisse sind weisse Schafe – keine Unbekannten auf politischen Plakaten – zu sehen. Die nördliche Kantonsgrenze, die das Wallis vom Rest der Schweiz, der «Üsserschwiiz», trennt, ist durch eine weiss-rote Schranke verstärkt. Der grimmige, blutrünstige Wolf sitzt auf der anderen Seite dieser Barriere: im Unterland, in Bern, im Machtzentrum.
Das Gefühl der politischen Bevormundung von oben, das hier zum Ausdruck kommt, wird oft verknüpft mit Forderungen, den Kantonen mehr Kompetenzen in Bezug auf Grossraubtiere zu übertragen. Diese referieren nicht zufällig immer wieder auf das föderalistische «Schweizer Erfolgsmodell». Es soll helfen, die Konflikte rund um Wölfe zu entschärfen, indem je nach kantonalem Kontext unterschiedliche, regional angepasste Lösungen gefunden werden sollen. Demgegenüber stehen Positionen, die betonen, ein so mobiles und grossräumig lebendes Tier wie der Wolf könne nicht sinnvoll innerhalb von Kantonsgrenzen gemanagt werden. So werden, angestossen durch die wandernden Wölfe, auch Sinn und Unsinn des Schweizer Föderalismus neu ausgehandelt.
Wie Wildnis und Fortschritt zusammen passen
Die Schranke auf dem Plakat der Walliser Initiative trennt jedoch nicht nur den Kanton von der Bundeshauptstadt, sondern auch das Unterland vom Berggebiet. Damit betritt man ein sozial und ideologisch besonders sensibles Terrain, sind doch die Alpen seit langem eine Projektionsfläche für die Sehnsüchte moderner Gesellschaften. Gerade in der Schweiz spielen sie für das nationale Selbstverständnis eine sehr wichtige Rolle.
Die Diskussionen verlaufen hier jedoch nicht ausschliesslich konfrontativ, sondern es wird auch auf die Tradition der Solidarität des Unterlandes mit den Bergregionen verwiesen. Der Wolf ermöglicht also eine fokussierte Perspektive auf Dynamiken zwischen peripherem Alpenraum und urbanen Machtzentren und auf die aktuelle Rolle des Berggebiets in der Schweiz.
Eine Frage, die dabei im Zentrum steht, ist jene nach der Rolle von Wildnis. Für manche steht sie im Widerspruch zur stark genutzten Kulturlandschaft sowie zur dichten und kleinräumigen Besiedelung der Schweiz. Könnte die auch von Wölfen verkörperte Wildnis aber womöglich in ausgewiesenen Zonen existieren, wie der Verein «Lebensraum Schweiz ohne Grossraubtiere» vorschlägt? Oder kann sie in Naturparks erhalten werden? Oder zeugen die Wolfsrudel, die sich in der Schweiz niederlassen, im Gegenteil gerade von einer Wildnis, die der Zivilisation gar nicht so gegenläufig ist, sondern ihr vielmehr folgt, sich ihr anpasst und ihren Weg zu finden weiss, wenn man sie nur lässt?
Bei all diesen Fragen geht es letztlich auch darum, wie sich die Schweiz gerade über ihren Umgang mit der Natur als fortschrittliche Nation darstellt. Für die einen bedeutet es Fortschritt, das Wachstum der Wolfsbestände zu kontrollieren, um das drohende Ende der Schaf-Alpwirtschaft zu verhindern und die befürchtete Verwilderung der Alpen aufzuhalten. Denn diese würde in ihren Augen den Verlust alpiner Biodiversität und die Entvölkerung der Bergregionen vorantreiben. Für die anderen wäre es in Zeiten von Klimawandel und Anthropozän zeitgemäss, der Natur ihren Platz einzuräumen und eine Koexistenz mit ihr anzustreben.
Das Eigene und das Fremde
Vielleicht ist es etwas überspitzt zu sagen, dass sich über die Wolfspolitik ein ganzes Land definiert. Doch auf dem Rücken des Wolfes wird Gesellschaft ausgehandelt. Dabei geht es nicht nur um sozio-politische Verhältnisse, nachhaltige Traditionen und Fragen der Autonomie und Selbstdarstellung, sondern auch um den Umgang mit dem Anderen, dem Fremden, das von aussen kommt oder gar aufgezwungen wird. Was will man? Kontrolle oder Koexistenz, Ausschluss oder Integration, Grenz- oder Willkommenspolitik?
Der Wolf erhöht die Sichtbarkeit von Akteuren und gibt ihnen eine laute Stimme. Er ermöglicht es, ökologische und ökonomische, politische und kulturelle, gesellschaftliche und historische Zusammenhänge zuzuspitzen und in einer prominenten Arena mögliche Zukünfte der Schweiz mit unmittelbarer Dringlichkeit zu diskutieren. Im Schatten des Wolfes wird unser Land also weiterhin in Bewegung bleiben.
Forschungsprojekt «Wölfe: Wissen und Praxis»
Elisa Frank und Nikolaus Heinzer sind Mitarbeitende beim Forschungsprojekt «Wölfe: Wissen und Praxis. Ethnographien zur Wiederkehr der Wölfe in der Schweiz», das am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (ISEK) der Universität Zürich angesiedelt ist, von Professor Bernhard Tschofen geleitet und durch den Schweizerischen Nationalfonds gefördert wird. Das Projekt betrachtet die Rückkehr des Wolfes als sozialen und kulturellen Prozess und untersucht in diesem Zusammenhang gesellschaftliche Umgangsweisen mit Natur.
Im Rahmen ihrer Promotion führen Frank und Heinzer eine auf qualitativen Methoden wie Feldforschung, Interviews, Diskurs- und Medienanalyse basierende ethnografische Studie von Wissensbeständen und Praktiken durch. Das sogenannte Wolfsmanagement wird dabei als ein komplexes Akteur-Netzwerk konzeptualisiert. Es werden sowohl die offizielle, institutionalisierte Verwaltung der Wölfe als auch weniger naheliegende Bereiche wie etwa Tourismus, Hundehaltung oder Tierpräparation sowie individuelle, populäre und alltägliche Auseinandersetzungen mit Wölfen kulturwissenschaftlich erforscht.