Kürzlich publizierte die Weltgesundheitsorganisation WHO die neuen Zahlen zu Masern-Erkrankungen: Im Jahr 2017 steckten sich in Europa sage und schreibe viermal mehr Menschen mit Masern an als noch im Jahr zuvor. So hat es etwa in Italien 5000 Masernfälle gegeben. Der Grund für den drastischen Anstieg: Zu wenige Menschen lassen sich impfen. Auch in der Schweiz. Zwar ist hierzulande eine grosse Mehrheit geimpft – im Durchschnitt sind 87 Prozent aller zweijährigen Kinder mit den erforderlichen zwei Dosen des Masernimpfstoffs immunisiert. Doch das sind zu wenige: Ziel ist eine Impfquote von 95 Prozent. «Nur so hätte das Virus keine Chance mehr, sich auszubreiten», sagt Mark Witschi, Leiter der Sektion Impfempfehlungen und Bekämpfungsmassnahmen beim Bundesamt für Gesundheit BAG.

Auch bei anderen Krankheiten ist die Impfquote zu tief, etwa bei Keuchhusten, der für Säuglinge tödlich enden kann. Besonders schlecht ist zudem die Quote bei der Grippeimpfung – das ist nicht der einzige, aber mit ein Grund dafür, dass die Grippewelle diese Saison so viele Menschen erwischt hat.

Märchen um die Impfung

Das Interessante daran: Die Gründe für die fehlende Impfbereitschaft haben mit den Impfungen an sich gar nicht so viel zu tun. So liegt einer der Gründe in falschen Informationen, die im Internet zu den Impfstoffen kursieren. Diese würden giftiges Quecksilber enthalten, lautet eine gerne wiederholte Falschinformation von Impfgegnern. Das ist längst nicht mehr der Fall. Oder die Masern-Mumps-Röteln-Impfung könne Autismus hervorrufen – eine Behauptung, die auf einer Untersuchung aus dem Jahr 1998 mit nur 12 Kindern basiert und später durch zahlreiche unabhängige Studien wiederlegt wurde. «Mit wissenschaftlicher Evidenz haben solche Behauptungen nichts zu tun», sagt Jan Cahlik, Kinderarzt und Vizepräsident des Berufsverbands Kinderärzte Schweiz. Schädlich sind solche Aussagen trotzdem. Denn obschon die Impfgegner nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung darstellen, tragen sie ihre Meinungen viel aktiver und lauter nach aussen als Impfbefürworter. «Das erschwert unser Vorankommen, was die Impfrate angeht», ist Cahlik überzeugt.

Weil in manchen Gebieten der Schweiz zu wenige Menschen geimpft sind, kommt es immer wieder zu regionalen Masern-Ausbrüchen. Meist dort, wo es Ärzte und Naturheilpraktiker gibt, die sich gegen Impfungen aussprechen, beispielsweise in der Region um das luzernische Emmen oder in Appenzell Ausserrhoden. So wurden vergangenes Jahr wurden in der Schweiz 105 Masern-Patienten erfasst.
Die Kinderkrankheit ist extrem ansteckend: Es reicht, wenn eine infizierte Person im gleichen Raum hustet oder niest, um sich mittels Tröpfchen-Infektion das Masern-Virus einzufangen. Rund einer von 3000 Masern-Patienten stirbt an einer der schweren Komplikationen, die durch eine Infektion mit dem Masern-Virus entstehen kann – etwa eine Lungenentzündung oder eine sogenannte Enzephalitis, das ist eine lebensbedrohliche Hirnentzündung.
Das Ziel des BAG, eine Impfrate von 95 Prozent, erreicht bisher nur ein einziger Kanton der Schweiz, Genf. Dass in der Westschweiz disziplinierter geimpft wird, liegt unter anderem daran, dass das Impfen dort besser im Schulbetrieb integriert ist.

Spezialfall Grippe

Besonders hitzig läuft die Diskussion bei der Grippeimpfung. Diese stellt einen Sonderfall dar: Während sämtliche anderen vom BAG empfohlenen Impfungen in Spitälern und beim Spitalpersonal in selbstverständlicher Weise akzeptiert sind – Ärzteschaft und Pflegepersonal sind zu fast hundert Prozent durchgeimpft – ist die Grippeimpfung höchst umstritten: In vielen Schweizer Spitälern sind nur gerade 40 bis 50 Prozent der Ärzte geimpft und nur 20 bis 25 Prozent des Pflegepersonals. Das hat eine Zusammenstellung des Branchenportals Medinside ergeben. Und dies, obwohl die Grippe für viele Spitalpatienten – vor allem für Säuglinge, alte Menschen und Patienten mit einer Immunschwäche – lebensgefährlich sein kann.

Woher also kommt die Abneigung gegen den alljährlichen Influenza-Piks? Hinweise darauf findet Dunja Nicca, Professorin für Pflegewissenschaft an der Uni Basel. Sie untersucht, wie Grippeprävention im Spital funktionieren kann und befragt dazu zurzeit in verschiedenen Schweizer Spitälern Pflegefachpersonen zum Thema Grippe und Grippeimpfung. Die Antworten aus zwei der Spitäler hat sie bereits ausgewertet. Eines der Ergebnisse: Viele Pflegefachpersonen schätzen hygienische Massnahmen – wie das Desinfizieren der Hände oder das Tragen einer Maske – als wirksamer für die Bekämpfung der Grippe ein, als die Impfung.

So funktioniert die Herdenimmunität

Eine Grafik erklärt die Herdenimmunität: Wenn genug Menschen geimpft sind, schützen sie auch die nicht geimpften.higgs

Damit eine Krankheit ausgerottet wird, muss nicht jeder Mensch geimpft sein. Bei Masern weiss man inzwischen, dass eine Impfrate von 95 Prozent in der Bevölkerung ausreicht, damit es keine Ansteckungen mehr gibt. Nicht geimpfte Menschen werden dann dadurch, dass sich fast alle andern immunisieren lassen, mitgeschützt. Etwas tiefer ist die erforderliche Impfrate bei der Grippe, weil diese nicht ganz so ansteckend wie Masern ist. Darum reicht bei Grippe laut Schätzungen eine Impfrate von rund 70 Prozent aus für eine Herdenimmunität. Genau weiss man das jedoch noch nicht. Auch weil der Impfcocktail gegen Grippe jedes Jahr unterschiedlich gut wirkt – das ist abhängig von den Virenstämmen, die sich durchsetzen. So lag der Impfschutz für die aktuelle Grippewelle bei 60 bis 70 Prozent. Je mehr Menschen sich künftig impfen lassen, umso besser wird man sehen, ab wann die Herdenimmunität wirkt.

Grippeimpfung: Wie hoch ist ihr Einfluss wirklich?

Tatsächlich ist es gar nicht so einfach, den Nutzen der Grippeimpfung im Spitalumfeld zu ermitteln. Zwar haben Untersuchungen in Pflegeheimen klar gezeigt, dass die Sterblichkeit der Bewohner sinkt, wenn eine Mehrheit des Personals sich jedes Jahr gegen Grippe impfen lässt. Doch dieses Ergebnis lasse sich nicht eins zu eins in die Spitäler übertragen, sagt Roswitha Koch, vom Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK. «Die Fluktuation von Patienten und Personal ist im Spital viel höher als im Heim, der Einfluss von Pflegepersonen auf die Patienten also viel kleiner», argumentiert die Pflegefachfrau, die beim Verband als Leiterin der Abteilung Pflegeentwicklung auch das Thema Infektionskrankheiten bearbeitet. Wie gross der Einfluss der Grippeimpfung im Spitalumfeld tatsächlich ausfällt, hat kürzlich eine Studie zu berechnen versucht – dabei aber nicht viel Klarheit gebracht: Um einen einzigen Grippe-Todesfall im Spital zu verhindern, müssten sich 6000 bis 32’000 Spitalangestellte impfen lassen, so das Ergebnis der Berechnung.

Die Krux bei der ganzen Sache: Um den Nutzen der Grippeimpfung in Spitälern abzuschätzen, wird es wohl auch in Zukunft keine härteren Daten geben als solche theoretischen Berechnungen. Denn Beobachtungsstudien wie solche, die Grippe in Pflegeheimen untersuchten, lassen sich in Spitälern kaum durchführen – gerade wegen der hohen Fluktuation der Patienten, der Besucher und des Personals.

Eine ältere Frau wir von einem Arzt in den Oberarm geimpft.Adobe Stock

Bei älteren Menschen wirkt die Grippeimpfung schlechter – umso wichtiger ist es, dass sich das Umfeld auch impfen lässt.

Jede verhinderte Ansteckung ein Gewinn

Pflegefachfrau und Verbandsfunktionärin Roswitha Koch selbst ist trotzdem gegen Grippe geimpft, «natürlich», wie sie sagt. Für sie persönlich ist der Nutzen der Impfung unbestritten – für jeden einzelnen, aber eben auch wenn es darum geht, gefährdete Personen im Spital vor einer Ansteckung zu schützen. Gleichzeitig ist ihr jedoch auch wichtig, dass ihre Schützlinge, die Pflegepersonen, das Recht auf ihre persönliche Entscheidung behalten – sich zu impfen oder eben nicht.

Doch warum sind viele derart erpicht darauf, Argumente gegen die Grippeimpfung zu finden – wo doch jede Ansteckung potenziell jemanden gefährden kann und folglich jede verhinderte Ansteckung ein Erfolg ist? Auf diese Frage liefert die Untersuchung der Pflegewissenschaftlerin Dunja Nicca Antworten. Und diese haben mit den Impfungen selbst nichts mehr zu tun, sondern vielmehr mit Hierarchien im Spital, der Kommunikations- und Sicherheitskultur und den Arbeitsbedingungen der Pflegenden. «Die Fokussierung auf die Impfung bei der Grippeprävention wird oft als zu moralisierend erlebt», sagt die Professorin an der Uni Basel. Die Botschaft – «wenn ihr euch nicht impfen lasst, gefährdet ihr Patienten» – sei schlicht nicht zielführend. Das sagt auch Roswitha Koch: «Vor allem an die Adresse des Pflegepersonals, das in seinem Beruf kaum etwas anders macht, als sich für Menschen einzusetzen.». Zudem sehen viele Pflegefachpersonen tagtäglich drängendere Probleme als die Grippeimpfung. Sie haben oft zu wenig Zeit für ihre Patienten und manchmal nicht einmal genug, um sich die Hände korrekt zu desinfizieren, weil zu wenig Pflegepersonal vorhanden ist. Da ist die Grippeimpfung zweitrangig – doch gerade dort wird Druck aufgesetzt. «Darum reagieren viele mit einer Abwehrhaltung», sagt Koch. Erreicht wird Gegenteil des Beabsichtigten, nämlich eine Tabuisierung des Themas.

Um die Widerstände gegen die Grippeimpfung nachzuvollziehen, müsse man erst verstehen, welche Prozesse in Teams mit Ärzten und Pflegepersonen ablaufen, sagt deshalb die Pflegewissenschaftlerin Nicca, die ebenfalls gegen Grippe geimpft ist. Sie sucht mit ihrer Forschung auch nach einer besseren Art, «Pflegepersonen in der Grippeprävention zu unterstützen», wie sie es diplomatisch ausdrückt. Dazu gehört auch, Pflegende von den Vorteilen der Grippeimpfung zu überzeugen. Ganz so weit ist Nicca noch nicht. Klar ist allerdings bereits, dass die Problematik viel mit Führungs- und Teamkultur zu tun hat. Und dass es sich um ein soziales Phänomen handelt: «Es entscheiden sich nicht Einzelpersonen gegen das Impfen, sondern eine gesamte Berufsgruppe.» Umso wichtiger sei es, die Einwände ernst zu nehmen.

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