Stadtspital Triemli

Peter Bauerfeind

 

Professor Peter Bauer­feind war von 1999 bis 2017 Leiter Endoskopie am Universitätsspital Zürich. Seit 2017 ist er Chefarzt der Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie am Stadtspital Triemli Zürich.

 

Peter Bauerfeind, man hört, im Darm tummeln sich mehr Bakterien als irgendwo sonst im und am menschlichen Körper?

Das Hauptvolumen ist tatsächlich im Dickdarm, aber Bakterien verteilen sich vom Mund bis zum Anus, wobei die Zahl beim gesunden Menschen im Dünndarm viel kleiner ist.

Ist das von Geburt an so?

Nein, man kommt eigentlich ohne Darmbakterien zur Welt. Die Besiedelung beginnt am Tag der Geburt.

Ist die natürliche Geburt für den Aufbau der Darmflora ein Startvorteil gegenüber dem Kaiserschnitt?

Die Meinung gibt es. Wahrscheinlich ist das aber nicht sehr relevant. Die Übertragung der Bakterien von der Mutter aufs Kind findet so oder so statt, und zwar sehr schnell. Wie unsere Darmflora sich aufbaut und ob sich Allergien oder entzündliche Darmerkrankungen einstellen, hängt auch davon ab, wie steril oder «sauber» wir aufwachsen. Es gibt Hinweise, dass unsere Keimbesiedelung damit in Beziehung steht. Ein gutes Beispiel ist Helicobacter, ein Keim im Magen, der eher negative Auswirkungen hat als positive. Da ist die Korrelation ganz klar: Je sauberer wir aufwachsen, je kleiner die Familie ist, je weniger beengt die Wohnverhältnisse sind, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir diesen Keim nicht haben.

Verändert sich die Zusammensetzung der Bakterien im Lauf eines Lebens stark?

Ich sage es mal so: Man hat noch gar nicht so lange den Überblick über die Bakterien im Darm. Diesen zu gewinnen, ist erst möglich, seit wir über mikrobiologische Methoden verfügen, die das ganze Spektrum zeigen. Früher hat man ja einfach irgendeine Flüssigkeit genommen, Stuhl oder Aspirationsflüssigkeit aus dem Dünndarm, diese auf einer Platte kultiviert und geschaut, was für Keime wachsen.

Das kennt man als Stuhlprobe.

Die Technik funktioniert – nur leider bekommt man durch sie nicht das reale Spektrum. Denn die Keime oder Pilze, die dort wachsen, sind natürlich solche, die an der Luft überleben und möglicherweise stärker sind als die, die nur im Darm überleben. Man muss also davon ausgehen, dass alles, was man früher im Blick auf die Bakterienpopulation in Magen und Darm studiert hat, nicht den Tatsachen entspricht.

Wann endete denn dieses Früher? 

Vor weniger als zehn Jahren.

Und was macht man heute anders? 

Man nimmt eine Probe vom Organ, etwa vom Dünndarm, analysiert sie molekulargenetisch und kann so erkennen, wie viele verschiedene Bakterien da zusammenkommen.

Bei dieser Methode kommt viel, viel mehr heraus als das, was früher auf einer Platte gewachsen ist. Allerdings stehen wir nun vor einer Datenflut, die nicht nur molekulargenetisch bewältigt werden muss, sondern eine mathematische Technik verlangt. Man muss Grossrechner einsetzen. Mit ihrer Hilfe werden Spektren für grosse Studien bestimmt.

Zu welchen neuen Erkenntnissen hat das geführt?

Kürzlich hat man zum Beispiel in Harvard untersucht, ob der Stuhl von Menschen mit Dickdarmkrebs ein anderes Spektrum hat als der von Menschen ohne Dickdarmkrebs. Und tatsächlich findet man unterschiedliche Bakterienmuster. Und dann muss man dieses molekulargenetische Muster auch wieder einem Bakterium zuordnen. Das kann man heute.

Das bakterielle Spektrum verrät also etwas über Krankheiten. Oder ist es selber der Krankheitsauslöser?

Das ist die Frage, die bisher unbeantwortet ist. Und nicht die einzige. Man hat eben noch gar nicht so viele Zahlen. Es nicht einfach zu sagen, wie das Mikrobiom der Person A ist, wenn sie einjährig ist, fünf oder 25.

Dann fängt man ganz bei null an, was das Bakterienwissen betrifft?

Natürlich gibt es wichtige Erkenntnisse, die schon in früheren Untersuchungen gewonnen wurden. Ein Beispiel: Wir wissen, dass die Darmflora bei Schweinen deren Wachstum beeinflusst. Das haben nicht Mediziner herausgefunden, sondern Schweinezüchter. Wenn man Schweinen bestimmte Bakterien zu fressen gibt, sogenannte Probiotika, verändert sich ihre Darmflora grundlegend, es gibt also einen Shift. Setzt man sie ab, gibt es aber sehr bald eine Rückkehr zum alten Wachstumsmuster. Die erzeugte Flora ist also nicht stabil.

Und das ist auf den Menschen übertragbar?

Ja – genauso ist es, wenn man dem Menschen Antibiotika gibt. Es gibt dann eine fundamentale Veränderung, eben einen Shift. Bestimmte Bakterien überleben, andere nicht. Setzt man das Antibiotikum ab, erfolgt eine Rückbildung. Doch gibt es Ausnahmen, Bakterien nämlich, die den Nachteil haben zu bleiben, wenn man sie einmal hat erstarken lassen. Eines heisst Clostridium difficile. Das ist ein pathogener Keim, der nach Antibiotikaeinnahme im Darm überhandnehmen kann. Ihn muss man dann mit einem zweiten Antibiotikum vernichten – oder aber, indem man dem Kranken den Stuhl eines Gesunden in den Darm transplantiert.

Es braucht also schwere Geschütze, um eine bestehende Darmflora beziehungsweise das Gesamtmikrobiom zu verändern?

So ist es. Normalerweise gehen wir davon aus, dass das Mikrobiom, das wir am Anfang unseres Lebens erworben haben, ein relativ stabiles System darstellt. Das hängt vor allem davon ab, welche mütterlichen und väterlichen Keime wir akquirieren. In Familien mit mehreren Kindern infizieren sich alle ständig mit Stuhlbakterien, weil die Hygiene nicht so ganz einzuhalten ist, was auch gar nicht gut wäre. Dann kommt natürlich die Umwelt hinzu, ob man in der Stadt oder auf dem Land aufwächst; schliesslich gibt es ganz sicher eine genetische Prädisposition.

Was sind denn nun die wichtigsten Aufgaben der Darmbakterien?

Es gibt Mundbakterien, die bei der Verdauung keine Rolle spielen. Man geht davon aus, dass es in der Speiseröhre, im Magen und im oberen Dünndarm sehr wenige Bakterien hat. Das prägnanteste Bakterium im Magen habe ich schon genannt, jenen Helicobacter, der in der jüngeren Bevölkerung immer weniger verbreitet ist. Es gibt auch Meinungen dahingehend, dass er seit Jahrhunderten zum Menschen gehört. Tatsächlich reduziert er einen Teil der Magensäure. Dennoch ist er eher schädlich, nämlich tendenziell karzinogen, indem er zu einer chronischen Entzündung der Magenschleimhaut führt. Ab dem Dickdarm aber ändert sich das Bild komplett.

Inwiefern? 

Dort haben wir eine natürliche Besiedelung. Die Dickdarmbakterien verbrauchen einen Teil der Nahrung, die bei ihnen noch ankommt und die wir selber nicht resorbieren können. Das sind vor allem von uns nicht verstoffwechselbare Zucker sowie Faseranteile aus pflanzlicher Kost. Dadurch schneiden sie die Nahrungsanteile auseinander, sodass wir diese zum Teil doch noch resorbieren können. Diese Stoffwechselleistung der Bakterien ist für den Menschen aber ohne Bedeutung. Ganz anders als bei Pflanzenfressern, die kaum Proteine mit der Nahrung aufnehmen und erst durch die Spaltungsvorgänge zu ihnen kommen.

Heisst das etwa, kein Gewinn durch Bakterien?

Den gibt es, natürlich. Er ist aber sehr schwer zu messen. Ein Benefit liegt wahrscheinlich darin, dass Bakterien unser Immunsystem verändern können. Zum Beispiel spielt das bakterielle Spektrum bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen eine Rolle. Es dürfte bei der Entstehung von Bedeutung sein – und es ist verändert während der Erkrankung.

Das gilt für alle Krankheiten, die man zu den Autoimmunerkrankungen zählt, von Diabetes bis zu rheumatischen Erkrankungen. Zuletzt wurde zu Multipler Sklerose publiziert. Man versucht, Assoziationen zwischen den Spektren im Darm und dem Auftreten gewisser Krankheiten zu finden. Beim Kolonkarzinom, einem bösartigen Dickdarmtumor, hat man tatsächlich ein abweichendes Bakterienspektrum nachgewiesen. Und das geht dann noch sehr viel weiter; so diskutiert man beispielsweise Depressionen oder Autismus.

Stichwort Depressionen: Der Darm gilt als sensibles Bauchgehirn. Steuern Darmbakterien die Psyche, wie jetzt oft zu lesen ist?

Denkbar ist auch das. Schliesslich gibt es ein eigenes intestinales Nervensystem, also zum Darm gehöriges Nervensystem.

Wenn es eine Chance gibt, bestimmte Krankheiten zu bekämpfen, muss man eine andere bakterielle Besiedelung implantieren?

Ja, vielleicht. Beim Kolonkarzinom würde man das gerne versuchen, aber von Ergebnissen sind wir noch weit entfernt. Ich glaube es lohnt sich, da viel in die Forschung zu investieren.

Bestimmen die Darmbakterien auch mit, ob man zu Übergewicht neigt?

Es gibt das interessante Phänomen, dass, wenn man den Darminhalt von dicken in dünne Mäuse hineingibt, diese dann dick werden. Und das hat sich beim Menschen reproduzieren lassen. Es scheint also so zu sein, dass die Art der bakteriellen Besiedelung einen Einfluss auf unser Essverhalten hat oder auf unser Sättigungsgefühl.

Aber wenn ich zum Beispiel ständig zu viel Zucker esse, werde ich krank.

Viel Zucker führt zu Übergewicht und den Folgekrankheiten. Das ist so – aber wir wissen eben nicht, ob das übers Mikrobiom geht!

Sind die Bakterien heute geforderter durch die unglaubliche Nahrungsvielfalt?

Medizinisch wird fast das Gegenteil diskutiert: Dass durch die Industrialisierung und Globalisierung der Lebensmittelproduktion und die strengen Hygienevorschriften bestimmte Erkrankungen auch in Ländern auftreten, wo sie früher selten waren. Man sieht, dass es Krankheiten, die in China früher gar nicht beschrieben wurden, wie Reizdarm oder entzündliche Erkrankungen, dort auf einmal gibt. Die Homogenisierung, also nicht die Vielfalt, fordert unseren Darm heraus. Was weltweit zunimmt, sind die Autoimmunkrankheiten. Und das könnte damit zusammenhängen, dass unsere Nahrung so sauber und steril und normiert ist.

Dieser Beitrag erschien erstmals im doppelpunkt.
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