Das musst du wissen

  • Die Ukraine kritisiert die Schweiz, weil der Lebensmittelmuliti Nestlé auch aktuell noch in Russland aktiv ist.
  • Kritikern sind die angekündigten Zugeständnisse von Nestlé nicht genug.
  • Was viele vergessen: Zahlreiche Lebensmittelriesen haben Niederlassungen in Russland.

Blutverschmierte Schokoladentafeln, Schokoriegel in Form von Patronen, ein verdrehtes Logo, das einen Vogel mit einer Nazi-Armbinde oder einem «Z»-Stempel zeigt. Die Kritiker gehen auf Twitter nicht gerade zimperlich mit Nestlé um. Zahlreiche Menschen rufen im Internet zum Boykott von Produkten des Schweizer Konzerns auf. Der Grund? Nestlé betreibt weiterhin Geschäfte in Russland und unterstützt durch die Steuern, die sie auf ihre Gewinne zahlt, «den verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine».

Warum wir darüber reden. Der ukrainische Premierminister Denys Shmyhal eröffnete die Feindseligkeiten am 17. März mit einer lapidaren Twitter-Nachricht:

Auf Deutsch geht der Wortlaut etwa so: Ich sprach mit @Nestle CEO Mark Schneider über den Nebeneffekt des Verbleibs auf dem russischen Markt. Leider zeigt er kein Verständnis. Steuern an den Haushalt eines terroristischen Landes zu zahlen bedeutet, wehrlose Kinder und Mütter zu töten. Ich hoffe, dass Nestle seine Meinung bald ändern wird.

Zwei Tage später wandte sich der ukrainische Präsident Volodymyr Zelensky in einer Rede vor dem Schweizer Parlament in Bern direkt an das Unternehmen:

«‹Gut essen. Gut leben›, so lautet der Slogan von Nestlé. Ihr Unternehmen, das sich weigert, Russland zu verlassen. Selbst jetzt, wo Russland andere europäische Länder bedroht. Nicht nur uns.»

Und das Staatsoberhaupt fügte hinzu: «In Russland laufen die Geschäfte sogar dann, wenn unsere Kinder sterben und unsere Städte zerstört werden.»

Warum das nicht so einfach ist. Man kann nicht einfach sagen, dass der multinationale Konzern einen «Business as usual»-Rhythmus verfolgt.

So hat Nestlé bereits am 11. März angekündigt, seine Aktivitäten drastisch zu reduzieren – konkret:

  • Einstellung von Werbekampagnen in Russland
  • Aussetzung «aller Investitionen in das Land»
  • Aussetzung aller Exporte aus Russland, mit Ausnahme von «essentiellen» Produkten wie Babynahrung, in die Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten
  • Stopp aller Importe nach Russland mit Ausnahme von «essentiellen Lebensmitteln»

Zu diesen sogenannten essentiellen Produkten gehören Babynahrung, Getreide, personalisierte Ernährung und therapeutische Tiernahrung für Fachgeschäfte und Tierkliniken, wie eine Sprecherin erklärte.

Ein lohnender Markt. Laut Bloomberg, einer US-amerikanischen Gruppe für Finanz- und Wirtschaftsinformationen, wird der russische Markt im Jahr 2021 einen Umsatz von 1,7 Milliarden Franken erzielen. Dies ohne Angabe des Nettogewinns.

Nestlé war auf Anfrage nicht bereit, den Anteil dieser Produkte am russischen Umsatz im Einzelnen anzugeben. Eine Unternehmenssprecherin bestätigte jedoch gegenüber Agence France Presse, dass mit den verbleibenden Aktivitäten kein Gewinn erzielt werde. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass keine Steuern an Russland gezahlt werden.

Auf Zelensky reagieren. Die Vereinigung der Aktionäre für mehr Konzernverantwortung «Actares» forderte Nestlé auf, «den Appell von Präsident Zelensky zu berücksichtigen».

Sind die Massnahmen, die der Konzern ergriffen hat, nicht ausreichend? Für Claire Forel, ehrenamtlich in der Nestlé-Arbeitsgruppe von Actares tätig, ist dies nicht die Frage:

«Was wir wollen, ist eine neue Stellungnahme von Nestlé nach dieser Rede, wenn möglich mit einer klareren Aussage.»

Die Sprecherin wehrt sich dagegen, jemanden aushungern oder die Angestellten vor Ort arbeitslos machen zu wollen. Die Rede des ukrainischen Präsidenten erfordere jedoch eine neue Stellungnahme, selbst wenn das bisherige Statement wiederholt würde. Denn es sei eher eine Frage der Form als des Inhalts.

Engagement in der Ukraine. Neben seinen Aktivitäten in Russland versichert der Schweizer Konzern, dass er täglich «hundert Paletten mit Grundnahrungsmitteln» – Babynahrung, Suppen und Nudeln – aus seinen Fabriken an bedürftige Menschen in der ukrainischen Gemeinschaft sende.

Das multinationale Unternehmen versichert ausserdem, dass er mit Lebensmittelbanken zusammenarbeitet, um ukrainische Flüchtlinge in den Nachbarländern zu unterstützen.

Eine komplexere Realität. Kritisch Denkende würden wohl sagen, dass Nestlé es sich mit der Beibehaltung seiner russischen Aktivitäten und gleichzeitigem Engagement für die ukrainische Gemeinschaft mit niemanden verscherzen will.

Doch die Forderung, die Produktion der russischen Fabriken gänzlich einzustellen, blendet eine weitaus komplexere Realität aus:

  • So werden neunzig Prozent der von Nestlé in Russland verkauften Produkte in Russland hergestellt.
  • Viele Lebensmittelriesen haben Niederlassungen in Russland, wie die Zeitung Le Monde kürzlich berichtete. Sollten wir auch von Danone, Lactalis und Savencia verlangen, dass sie ihre Aktivitäten in Russland einstellen? Mit dem sehr wahrscheinlichen Risiko, dass die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung trotzdem nicht erfüllt werden können?

Das Institut für Viehzucht «Idele» wies in einer Analyse darauf hin:

«Das Wachstum der russischen Milchproduktion beruht auf dem Wachstum der grossen Molkereiunternehmen. Diese liefern drei Viertel der nationalen Milch. Dies hat den strukturellen Rückgang des informellen Sektors – kleine Familienbetriebe – mehr als ausgeglichen.»

  • Russland ist der zweitgrösste Importeur von Milchprodukten weltweit.
  • Nestlé beschäftigt in Russland 7000 Personen, Danone 8000 und Lactalis 1900. Alle diese Konzerne haben ihre Aktivitäten vor Ort aufrechterhalten – und gleichzeitig Investitionsprojekte ausgesetzt.

Massive Sanktionen als harter Schlag für die Bevölkerung. Die Ächtung der in Russland ansässigen multinationalen Unternehmen birgt das Risiko, dass der Zugang der Zivilbevölkerung zu wichtigen Gütern direkt beeinträchtigt wird.

In einem Interview mit Heidi.news warnte Grégoire Mallard, Professor am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung (IHEID) in Genf und Spezialist für internationale Sanktionen, vor einer Anhäufung von gezielten Sanktionen für einzelne Sektoren:

«Denn so zahlt die Zivilbevölkerung den Preis, indem sie eine galoppierende Inflation und Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Medikamenten und anderen lebensnotwendigen Gütern hinnehmen muss. Gleichzeitig bauen die Privilegierten des Regimes in ihrem System verdeckte und mafiöse Handelsnetze auf.»

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

Heidi.news

Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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