«Es gibt nichts Spannenderes als das Leben selbst. Auch für mich hat es viel Unerwartetes bereitgehalten. Mein Leben war immer sehr bewegt – und ist es noch immer. Zwar könnte ich schon seit mehreren Jahren als Rentner leben; aber ich säge doch nicht den Ast ab, auf dem ich mich wohl fühle. Ich bin rastlos und mag es, wenn etwas läuft. Das führt immer wieder zu Veränderungen. Denn die gehören zum Leben. Und zur Weltgeschichte. Deshalb sehe ich das mit dem Klimawandel auch nicht so dramatisch. Zwar werden ihm gewisse Tier- und Pflanzenarten zum Opfer fallen und aussterben. Aber es werden sich auch neue Arten entwickeln. Denn die Natur hält kreative Lösungen bereit. Da bin ich mir sicher. Wie würde die Welt aussehen, wenn vor 65 Millionen Jahren auf der Erde kein Meteorit eingeschlagen hätte und die Dinosaurier nicht ausgestorben wären? Ihr Verschwinden hat anderen Tierarten die Chance gegeben, sich zu entwickeln – nicht zuletzt dem Menschen. Deshalb bin ich auch nicht traurig, dass die Giganten ausgestorben sind, obwohl ich als Dinoforscher von ihnen fasziniert bin. Das einzige, was von ihnen noch übrig ist, sind verstreute Knochen und hier und dort Hautreste. Mehr nicht. Doch diesen Überresten versuchen wir Funktionen und Eigenschaften zuzuschreiben, wie etwa die Gang- oder gar Lebensart. Diese Detektivarbeit ist spannend. Dennoch würde ich manchmal auch gerne durch ein Schlüsselloch in die Vergangenheit schauen und die Dinos beobachten.

«Die Natur hält kreative Lösungen bereit. Da bin ich mir sicher.»Hans-Jakob Siber

Aber das Auseinandersetzen mit der Vergangenheit hindert mich nicht daran, im Hier und Jetzt zu leben. Denn ich bin auch stark in der Gegenwart präsent und hecke viele Pläne für die Zukunft aus. Ich bewege gerne etwas, führe Veränderungen herbei. Aber auch Veränderungen, die überraschend sind oder gar negativ scheinen, können eine Chance sein. Das habe ich mehrmals am eigenen Leib erlebt. Einmal zum Beispiel wollte das Naturhistorische Museum in Wien von mir ein möglichst grosses und vollständiges Dinosaurierskelett. Ich machte mich sofort daran, streckte die Fühler in den USA aus und organisierte Ausgrabungen. Doch bis das Projekt Früchte trug, vergingen vier Jahre. Da zogen sich die Verantwortlichen des Museums vom Auftrag zurück. Nun stand ich da mit dem ersten Original-Dinosaurier, der jemals in der Schweiz gezeigt worden war und wusste nicht mehr weiter. In diesem Moment kam die renommierte Smithsonian Institution von Washington D. C. auf mich zu und bot mir für einen Teil meiner Sammlung Geld an. Ihr besonderes Interesse galt vier fünfzig Millionen Jahre alten Vogelfossilien. Das war die Rettung.

René Ruis

Hans-Jakob Siber in seinem Sauriermuseum in Aathal.

Ein anderes Mal wurde mir eine vielversprechende Grabungsstätte in den USA verwehrt – und das wenige Tage vor dem Abflug in Zürich. Alles hatten wir bereits für die Ausgrabungen organisiert. Meine Verzweiflung war riesig. Nach langem Hin und Her habe ich dann doch die Verhandlungen mit den Fossilienrechtsbesitzern abschliessen können, und dort habe ich den Fund meines Lebens gemacht: den Allosaurus Big Al Two. Das Skelett dieses Raubsauriers gehört zu den am vollständigsten erhaltenen Allosaurier- Funden überhaupt. Ausgerechnet einer der grössten Fleischfresser – welch ein Glück! Dank dieser Grabungsstätte, die später noch weitere bedeutende Funde Preis gab, wurde das ‹Siber-Team› im In- und Ausland bekannt. Ich habe mir unter den Wissenschaftlern aber auch deshalb einen Namen gemacht, weil diese von meinen Funden Proben nehmen dürfen – mit dem Risiko, dass die Knochen dabei Schaden nehmen. Ich bin da grosszügig. Denn wenn die Analyse einer Probe wieder einen Puzzlestein mehr zum Enträtseln des Geheimnisses um die Urzeitgiganten beitragen kann, macht mich das glücklich. Aber ich teile nicht nur meine Funde. Ich teile auch mein Wissen gerne. Deshalb organisiere ich immer wieder wissenschaftliche Symposien. Ich lade Forscher aus aller Welt ein, um mit ihnen die neuesten Erkenntnisse aus der Dinoforschung auszutauschen.

Urs Möckli

Das Skelett eines 10 Millionen Jahre alten fossilen Bartenwals bringt Hans-Jakob Siber (Mitte) von Südamerika nach Aathal. Er verkauft es dem Naturkundemuseum Stuttgart und finanziert so den Start seines Sauriermuseums (1986).

Unerwartete Veränderungen haben sich auch in meinem Privatleben ereignet. Ich habe vier Kinder von zwei Frauen und bin jetzt erneut verheiratet. Als Familienmensch tut mir natürlich jeder Bruch von Herzen leid. Aber ich denke heute auch gerne an die schönen Zeiten zurück. Eine Mittelmeerreise in den 1970er-Jahren mit meiner schwangeren Partnerin und unserer einjährigen Tochter war ein Schlüsselerlebnis für mich. Wir waren mehrere Wochen im Wohnwagen in Nordafrika unterwegs, und ich hatte ein Buch über Fossilien als Lektüre mit dabei. Dieses Buch hat mir die Augen geöffnet. Ich sah ein grosses Potenzial in der Entdeckung der urzeitlichen Überbleibsel, weil dieses Forschungsgebiet noch in den Kinderschuhen steckte. Weltweit musste es noch viele Fundstellen geben, die brachliegen und es brauchte dringend Leute, die das Wissen und die nötigen Mittel hatten, die Fossilien fachgerecht zu bergen. Zurück in der Schweiz, hätte ich am liebsten Paläontologie studiert. Aber aus Pflichtgefühl musste ich die Leitung der Mineralienhandlung, die mein Vater und ich gegründet hatten, übernehmen. Eine andere Wahl hatte ich nicht. Und so habe ich mich darüber informiert, wie man dieses Fach studiert, welche Bücher Studenten während des Studiums lesen. Dann habe ich nachts alles verschlungen und mir das Wissen autodidaktisch angeeignet. Daher habe ich keinen offiziellen Abschluss. Umso mehr freut es mich, dass mir die Universität Zürich im Jahr 2010 den Ehrendoktortitel verliehen hat. Vor allem freut es mich deswegen, weil der Prophet im eigenen Land bekanntlich nichts gilt.

Diplodocus von Siber

Es war vielleicht das schönste Weihnachtsgeschenk für Hans-Jakob Siber. Denn im Dezember 2012 wurde ein neu entdeckter Pflanzenfresser nach ihm benannt: Kaatedocus siberi, der «kleine Diplodocus von Siber». «Klein» bedeutet bei den Langhals-Dinosauriern allerdings eine stattliche Körperlänge von über zehn Metern. Aber im Vergleich zu anderen Langhals-Dinosauriern, die bis zu dreissig Meter lang waren, wird der «kleine Diplodocus von Siber» seinem Namen doch gerecht.

Doktortitel hin oder her: Auch wenn ich jetzt oft als Dr. h. c. Hans-Jakob Siber bezeichnet werde, im Herzen bin ich immer noch der Köbi, bodenständig und wissensdurstig und vor allem voller Tatendrang. Ich kann zum Beispiel nicht um des Reisens willen reisen. Ich bin insgesamt mehrere Monate im Jahr fern meiner Heimat – aber nicht etwa irgendwo am Strand an der Sonne. Die meiste Zeit davon bin ich im US-Bundesstaat Wyoming am Graben. Denn es sind noch längst nicht alle Knochen entdeckt.

Archiv H.-J. Siber/Sauriermuseum Aathal

Hans-Jakob Siber leistet jährlich einen Monat Feldarbeit in den Big Horn Mountains von Wyoming (USA). Von dieser Fundstelle stammen alle zehn grossen Dinosaurierskelette, die heute im Sauriermuseum Aathal stehen (1992).

Ich mag die USA. Zu ihnen habe ich eine besondere Beziehung. Nicht nur habe ich in den 1960er-Jahren an der Montana State University Theater und Film studiert, ich war auch 17 Jahre lang mit einer Amerikanerin verheiratet. Ausserdem wurden die Dinosaurier in den USA zuallererst populär. Die Amerikaner sind nicht umsonst dafür bekannt, die Meister im Vermarkten zu sein. Denn wer 300 Millionen Mitbürger hat, muss laut schreien, um gehört zu werden. Davon könnten wir Schweizer viel lernen. Ich finde es traurig, dass in Europa unzählige Funde der Urzeitgiganten in Kellern gelagert werden und dort wie in einem Dornröschenschlaf dahindämmern. Deshalb habe ich im Jahr 1992 in Aathal ein Museum gegründet, um sie aufzuwecken und sie damit den fast 100 000 Besuchern pro Jahr zu präsentieren. Von Anfang an war das Museum selbstragend. Darauf bin ich stolz. Mein Erfolg ist aber nicht nur mein Verdienst. Als Museumsdirektor sehe ich mich vielmehr als Trainer, der seine Mannschaft erfolgreich über die Ziellinie bringt. Gemeinsam entwickeln wir immer wieder neue Ideen und Sonderausstellungen. Denn mein Museum soll keinesfalls ein verstaubtes Archiv sein. Stillstand liegt mir nicht. Dafür ist das Leben viel zu spannend.»

Dieses Porträt stammt aus dem Buch «Zürcher Pioniergeist» (2014). Es porträtiert 60 Zürcherinnen und Zürcher, die mit Ideen und Initiative Neues wagten und so Innovationen schufen. Das Buch kann hier bestellt werden.
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