Das musst du wissen

  • Am 4. August explodierten im Hafen von Beirut 2750 Tonnen Ammoniumnitrat und zerstörten die halbe Stadt.
  • Darauf demonstrierte die Bevölkerung auf der Strasse gegen Misswirtschaft und Korruption durch die politische Elite.
  • Am 10. August ist die Regierung zurückgetreten – Reformen sind auch mit einer neuen Regierung schwierig durchzuführen.
Den Text vorlesen lassen.

Frau von Finckenstein, wie haben Sie den Tag der Explosion erlebt?

Ich war im Büro, das zum Glück etwas weiter weg vom Hafen ist. Zuerst dachte ich, es sei ein Erdbeben. Dann, das Gebäude würde attackiert. Die Luft wurde dünn, und dann hat man die Druckwelle gespürt, die Türen sind eingebrochen. Ich bin dann raus, um zu meinem Appartement zu gelangen, das in Hafennähe ist. Man sah überall Verletzte, verblutende Menschen, viele, die ins Krankenhaus gelangen wollten, es gab Stau. Da war viel Panik, viel Zerstörung, viel Blut. Als ich in mein Gebäude gelangte und hochlief, ist man auf jeder Etage auf eine andere, traurige Szene getroffen. Meine Wohnung war zerstört.

Valentina von Finckenstein

Valentina von Finckenstein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Programm-Managerin der Konrad Adenauer Stiftung im Libanon. Sie studierte Geschichte und internationale Beziehungen in England und Deutschland und betreut nun von Beirut aus das Dossier Libanon und Naher Osten. Die deutsche Konrad Adenauer Stiftung ist eine politische Stiftung. Sie setzt sich laut eigenen Angaben national und international durch politische Bildung für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit ein. Die Festigung der Demokratie, die Förderung der europäischen Einigung, die Intensivierung der transatlantischen Beziehungen und die entwicklungspolitische Zusammenarbeit sind besonderen Anliegen.

Der Hafen wurde komplett zerstört, der doch wichtig ist für den Handel. Droht ein Nahrungsengpass?

Der Hafen ist zwar zentral, 80 Prozent der Importe gehen hier ein – und der Libanon ist stark importabhängig. Rund 85 Prozent aller Lebensmittel müssen importiert werden. Ersten Schätzungen zufolge ist allerdings der östliche Teil des Hafens noch relativ intakt. Es gibt ausserdem einen grossen Hafen in Tripoli, der freie Kapazitäten hat und zwei kleine Häfen im Süden. Es wird also vorerst keine Ernährungskrise geben, weil man zum Beispiel keinen Weizen importieren könnte.

_____________

📬 Das Neuste und Wichtigste aus der Wissenschaft, jeden Dienstag und Donnerstag per E-Mail:
Abonniere hier unseren Newsletter! ✉️

_____________

Die Regierung ist zurückgetreten. Wie kann es in dem Land nun weitergehen?

Das politische System ist sehr, sehr tief verwurzelt und reicht in die meisten staatlichen Institutionen, den Sicherheitsapparat, aber auch in den privaten Sektor. Die Banken zum Beispiel sind grösstenteils mit der politischen Elite verbunden. Das politische System basiert auf dem sensiblen Gleichgewicht, das nach dem Bürgerkrieg 1989 unter den regionalen Mächten und den 18 Religionen ausgehandelt wurde. Der Libanon wird durch ein Klientelsystem regiert: Machterhalt wird unter anderem dadurch gesichert, dass man als konfessionelle Gruppe die Leistungen erbringt, die der Staat nicht bieten kann, da dessen Ressourcen systematisch abgeschöpft werden. Diese Ressourcen werden an das eigene Klientel umgeleitet, um die Wiederwahl zu garantieren. Das hat auch die internationale Gemeinschaft verstanden und ist vorsichtiger mit Hilfsgeldern an die Regierung. Denn diese landen oft in den falschen Händen. Dieses politische System ist sehr schwer zu reformieren. Und trotzdem gibt es nun keinen anderen Weg als Reformen, um aus dieser Krise herauszufinden. Gleichzeitig bieten strukturelle, politische Reformen aber grosses Eskalationspotential.

Religion im Libanon

Es gibt im Libanon 18 anerkannte Religionsgemeinschaften. Darunter sind die grössten maronitische Christen sowie schiitische und sunnitische Muslime. Daneben gibt es Drusen, rum-orthodoxe Christen, melkitische griechisch-katholische Christen, armenisch-apostolische Christen, Alawiten, armenisch-katholische Christen und protestantische Christen sowie koptische Christen. Das Parlament mit 128 Mitgliedern wird alle vier Jahre gewählt. Es setzt sich seit dem Abkommen von Taif nach dem Grundsatz der konfessionellen Parität zusammen. Die vier höchsten Staatsämter sind ebenfalls den Mitgliedern bestimmter religiöser Gruppen vorbehalten.

Das heutige Wahlsystem macht es fast unmöglich, dass neue Kräfte an die Macht gelangen. Würden Neuwahlen überhaupt etwas bringen?

Neuwahlen sind in der Tat nur ein kleiner Schritt. Das Wahlsystem macht es neuen Bewegungen zwar schwer. Die Wahlbezirke sind zum Beispiel so aufgeteilt, dass sie gewisse Konfessionen bevorteilen. Wenn man nicht für die Partei oder den Politiker stimmt, der für den Bezirk vorgesehen ist, wird das durch mehrere Mechanismen abgestraft. Zum Beispiel bekommt die Gemeinde dann weniger Geld. Allerdings müssen sich auch die Oppositionsbewegungen besser organisieren. Das Wahlsystem ist aber nicht das Hauptproblem.

Sondern?

In erster Linie das fest verwurzelte politische System samt all seiner Netzwerke. Zudem verfolgen auch externe Mächte ihre Interessen im Libanon. Wenn ein neues politisches System ausgehandelt werden soll, wird man an diesen Mächten nicht vorbeikommen. Hierfür müssen die internationalen Mächte einschliesslich Saudi Arabien, Iran, Israel aber auch den USA und Frankreich gemeinsam an einen Tisch sitzen.

Bereits im Oktober 2019 gingen die Leute auf die Strasse und forderten einen Systemwechsel. Was ist heute anders?

Die Stimmung ist gekippt, die Bevölkerung ist weniger kompromissbereit. Die Rhetorik ist gewaltbereiter, Galgen wurden mit den Figuren der führenden Politiker auf dem Märtyrerplatz aufgebaut. Und vor allem: Die internationale Gemeinschaft schaut wieder auf das Land. Im Oktober 2019 brachen die Proteste zu einem Zeitpunkt aus, als die internationale Gemeinschaft wenig Interesse für das Land zeigte. Der Golf war zuvor einer der ersten Adresse für finanzielle Hilfen. Mit den neuen Wirtschaftszielen und der ganz anderen politischen Führung in Saudi Arabien hat sich das aber geändert. Auch der Iran und die USA griffen verhältnismässig wenig in die ersten Protestwochen im Oktober ein. Jetzt schauen wieder alle auf das Land.

Man spricht davon, das Land sei in Geiselhaft der bewaffneten Hisbollah, der islamistisch-schiitischen Partei. Ist die Miliz mit ein Hauptproblem?

Die Hisbollah hat neben dem Staat das zweite Gewaltmonopol. Es handelt sich um eine Miliz, die aus dem Konflikt mit Israel entstammt und sich weigert, die Waffen abzugeben. Es wäre aber zu einfach zu sagen, dass die Blockade allein von der Hisbollah kommt. Die ganzen staatlichen Fehler, die passiert sind, von der Müllkrise über die Umweltkrise, die Waldbrände letztes Jahr bis hin zur Finanzkrise, zeigen das Versagen eines gesamten politischen Systems – auch wenn die Hisbollah ein wichtiger Teil dessen ist. Aber es ist sicher eine zentrale Frage, was mit diesem zweiten Gewaltmonopol geschehen soll. Der libanesische Staat kann seine Aussenpolitik nicht souverän bestimmen, wenn sich Kräfte im Land nicht an das Neutralitätsprinzip halten, dem sich der Libanon theoretisch verschrieben hat. Der Staat kann auch seine Grenzen, vor allem zu Syrien, nicht richtig schützen, wenn die Milizen an den Grenzen mitmischen.

Können die Demonstranten bei all den internationalen Verquickungen überhaupt etwas bewirken?

Sie hatten bereits einen wichtigen Einfluss. Die Regierung ist zurückgetreten. Die Bürger und Bürgerinnen machen sehr klar, dass man mit dem politischen System nicht einfach weitermachen kann. Die zweite Auswirkung ist eine gesamtgesellschaftliche: Die Libanesen wenden sich vermehrt von ihren konfessionellen Führern ab. Menschen verschiedenster religiöser Richtungen zerreissen die Bilder ihrer politischen Oberhäupter auf der Strasse. Welche politischen Folgen diese Entwicklung mit sich tragen wird, lässt sich noch nicht sagen. Oppositionsbewegungen beraten sich Tag und Nacht seit den Explosionen. Alle Wege stehen noch offen.

Hat die Explosion die Eliten materiell eigentlich getroffen?

Ich kenne keine Zahlen zu den Materialschaden der Eliten, in erster Linie ist allerdings sicherlich die normale Zivilbevölkerung betroffen. Die zukünftige Regierung steht jetzt aber von Seiten der Bürger, aber auch von Seiten der internationalen Gemeinschaft unter noch höherem Druck, Reformen einzuleiten. Das war schon vorher eine Forderung: Libanon verhandelt seit Monaten erfolglos mit dem Internationalen Währungsfonds und kommt nicht weiter, weil weder die notwendigen Reformen, noch genügend Transparenz bei offiziellen Daten garantiert werden. 2018 gab es bereits eine Geberkonferenz, die Cedre-Konferenz, bei der 11 Milliarden Dollar zusammen kamen. Dieses Geld ist aber an Reformen gekoppelt, und diese wurden bis heute nicht umgesetzt.

Wird der Libanon die Reformen diesmal schaffen?

Das ist eine sehr schwierige Frage, da kann man nur spekulieren. Auf jeden Fall ist jetzt ein sehr sensibler Moment in der libanesischen Geschichte. Es braucht einen Neuanfang, um das Vertrauen wieder herzustellen. Es ist zu wenig zu spät passiert. Kleine Zugeständnisse reichen nicht mehr. Sogar das Vertrauen in staatliche Institutionen, die zuvor als überparteilich galten, wie das Militär, ist seit der Explosion verloren gegangen. Um das wieder herzustellen, braucht es einen Neuanfang, den die Bürgerinnen und Bürger auch als solchen empfinden – anders als im Oktober 2019. Ein neues Kabinett, hinter dem die gleichen Machtverhältnisse stehen wie vorher, reicht nicht.

Diesen Beitrag teilen
Unterstütze uns

regelmässige Spende