«Die Welt geht einem dunklen Zeitalter des Elends, des Hungers, ungenügender Erziehung und gefährlicher Unruhe entgegen» und schuld sei das Bevölkerungswachstum. So hiess es schon 1960 in einem Aufruf, den 172 internationale Persönlichkeiten unterschrieben hatten, darunter die amerikanische Menschenrechtsaktivistin und Präsidentengattin Eleanor Roosevelt sowie der deutsche Schriftsteller Hermann Hesse und 38 weitere Nobelpreisträger. Um das Horrorszenario zu verhindern, forderte die hochkarätige Gruppe eine weltweite Geburtenkontrolle. Damals lebten rund 3,5 Milliarden Menschen auf der Welt – heute sind es rund 7,6 Milliarden. Von 1960 bis heute hat sich die Bevölkerung also mehr als verdoppelt. Und bis ins Jahr 2100 werden es nochmals rund vier Milliarden mehr sein, sagt die Prognose der «Population Division» der UNO.
Gleichzeitig hat sich die Menschheit zum Ziel gesetzt, ihren negativen Einfluss auf die Umwelt möglichst rasch zu vermindern, vor allem aufzuhören, so viel Treibhausgase in die Atmosphäre zu blasen. Dazu haben sich alle Staaten der Welt am Pariser Klimaabkommen von 2015 verpflichtet.
Doch wie passen diese Klimaziele mit einer rasant wachsenden Weltbevölkerung (Live-Visualisierung) zusammen? Ist das Bevölkerungswachstum mitschuldig am Klimawandel – und wenn ja, wie stark? «Fragen in diese Richtung bekomme ich nach Vorträgen extrem häufig aus dem Publikum gestellt», sagt Reto Knutti, Klimaforscher an der ETH Zürich. Ungemütliche Fragen, weil politisch heikel.
Das anerkennt auch ein kürzlich im Fachjournal Science erschienener Beitrag von zwei US-Forschern. Sie fordern darin, dass der Weltklimarat künftig auch Massnahmen gegen das Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern prüft. «Das ist bisher unter Klimaforschern ein Tabuthema», sagt Brian O’Neill, einer der beiden Autoren. So hat der Weltklimarat die Bevölkerungsentwicklung in seinen Berichten bisher kaum erwähnt. Das bemängelt O’Neill. Denn auf die Informationen des Weltklimarats stützen sich die Klimastrategien der einzelnen Staaten.
Theorie und Realität
O’Neill und sein Mitautor schlagen selbst keine konkreten Massnahmen vor, das sei Aufgabe der Politik. Doch sie plädieren dafür, dass das Bevölkerungswachstum genauso ein Faktor in der Klimapolitik wird, wie auch die Energieeffizienz, erneuerbare Energien oder der Landverbrauch.
Auf lange Sicht schätzen verschiedene Studien den Einfluss des Bevölkerungswachstums auf das Klima tatsächlich als beträchtlich ein. Darunter eine von Brian O’Neill selbst, die prognostiziert, dass ein nach unten korrigiertes Bevölkerungswachstum die globalen CO₂-Emissionen – hochgerechnet auf das Jahr 2100 – um bis zu 40 Prozent vermindern könnte (Quelle). Und das obwohl das grösste Wachstum in Afrika passiert, wo am allerwenigsten Ressourcen verbraucht werden.
Soweit die Theorie. Doch in der Realität sieht es anders aus. Denn so einfach lässt sich die Bevölkerungsentwicklung nicht bremsen. Diese ist durch drei Faktoren bestimmt: Erstens wird nun auch in Entwicklungsländern die medizinische Versorgung immer besser, deshalb leben die Menschen länger. Zweitens gibt es heute weltweit viel mehr junge als alte Menschen – indem sie älter werden, füllen sie automatisch die betagteren Kohorten auf. Schon nur dadurch kommen selbst bei einer tiefen Geburtenrate drei Milliarden Menschen dazu – also der Hauptteil des zukünftigen Wachstums. Drittens, die Geburtenrate.
Von diesen drei Faktoren lässt sich einzig die Geburtenrate anpassen. Und ein Blick zurück zeigt, dass sich hier in den letzten Jahrzehnten schon viel getan hat: Im Jahr 1963 haben Frauen weltweit im Schnitt rund fünf Kinder zur Welt gebracht. 2012 waren es noch 2,5. Nur im zentralen und südlichen Afrika werden heute noch überdurchschnittlich viele Babys geboren.
Eine effiziente Massnahme gegen das Bevölkerungswachstum
Dennoch: Neu ist die Idee, die Geburtenrate zu regulieren, um die Umwelt zu schonen, auch in der Wissenschaft nicht. So hat sich 1972 der Club of Rome, ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt, in seiner Studie mit dem Titel «Die Grenzen des Wachstums» für eine weltweite Geburtenkontrolle ausgesprochen. Manch andere Wissenschaftler gingen mit dem Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern noch deutlich unzimperlicher um. So stellte der Stanford-Professor Paul Ehrlich in seinem 1968 erschienenen Buch «The Population Bomb» den Einsatz des Insektizids DDT bei der Bekämpfung von Malaria infrage. Am Beispiel von Kolumbien rechnete er vor: Wenn man DDT einsetzt, überleben pro Haushalt sieben oder acht Kinder. Tut man es nicht, überleben zwei oder drei, der Rest stirb an Malaria. Ehrlich plädierte dafür, kein DDT einzusetzen – und nannte das eine effiziente Massnahme gegen das Bevölkerungswachstum.
Kein Zwang
Von derartigem wie auch von unfreiwilliger Geburtenkontrolle distanzieren sich heutige Klimawissenschaftler wie Reto Knutti klar. Aber auch er plädiert dafür, zu prüfen, inwiefern das Bevölkerungswachstum in die Klimapolitik einfliessen soll: «Obschon es ein politisch heikles Thema ist, sollten wir darüber diskutieren können.» Dabei gehe es nicht darum, jemandem etwas vorzuschreiben. Sondern darum, die Lebensbedingungen von Familien in Entwicklungsländern zu verbessern mit Massnahmen, wie sie bereits heute zur Entwicklungshilfe gehören: Frauen einen besseren Zugang zu Verhütungsmitteln, medizinischer Versorgung, Bildung und wirtschaftlicher Sicherheit zu ermöglichen.
Klar ist für Knutti aber auch, dass nicht das Bevölkerungswachstum, sondern die Industrialisierung der grösste Treiber des Klimawandels ist und bleibt. Und der damit einhergehende Lebensstilwechsel – früher in der westlichen Welt, heute in jenen Entwicklungsländern, die stark aufgeholt haben, zum Beispiel Indien: Mehr Wohlstand, mehr Autos, mehr Fleisch auf dem Speiseplan. «Das verschärft das Klimaproblem, aber mit der Geburtenrate hat das nichts zu tun», stellt Knutti klar.
Gar nichts mit der Argumentation des Science-Artikels kann Philipp Aerni anfangen, der Direktor des Zentrums für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit der Uni Zürich. Diese bediene lediglich ein sehr populäres Vorurteil. «Es gibt eine riesige Community, die dem Bevölkerungswachstum die Schuld an allen Umweltproblemen gibt.» Da schwingen für Aerni immer anti-humanistische Gedanken mit. «Wir in den Industriestaaten wollen auf unseren Lebensstandard nicht verzichten, aber anderen vorschreiben, dass sie es sollen. Indirekt bewerten wir unser eigene Leben so höher als das von anderen.»
«Der Überbevölkerungs-Mythos» von Hans Rosling, ehemaliger Professor für Internationale Gesundheit in Stockholm:
Ausserdem komme es darauf an, ob man in die Menschen investiert und sie Teil der Lösung sein lässt, sagt Aerni. Dann müsse es gar nicht so sein, dass mehr Menschen der Umwelt und dem Klima mehr schaden. Er verweist auf die Arbeit der dänischen Sozialwissenschaftlerin Ester Boserup. Sie untersuchte in den 1960er-Jahren in Kenia, wie eine wachsende lokale Population in der Region um Machakos mit der Landknappheit umging. Und entdeckte, dass die stark wachsende Gemeinschaft besser mit den wenigen Ressourcen umging als Bauern in ähnlichen, aber weniger dicht besiedelten Gebieten: Die wachsende Bevölkerung war innovativer und hat den vorhandenen Boden nachhaltiger bebaut und genutzt.
Was ist mit der Schweiz?
Doch selbst wenn ein Bremsen des Bevölkerungswachstums in Afrika womöglich einen kleinen Einfluss auf den Klimawandel hat – für uns hier in der Schweiz und Westeuropa ändere das überhaupt nichts, sagt Reto Knutti, der einen Bericht über das Erreichen der Klimaziele für den Bund mitverfasst hat. Zu immens ist der Verbrauch an Ressourcen und der Ausstoss an Klimagasen der Industriestaaten im Vergleich mit jenen der Entwicklungsländer. Mit dem Klimaabkommen von Paris haben sich alle Staaten verpflichtet, die globale Erwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu beschränken – das berühmte Zwei-Grad-Ziel. Für die Industriestaaten in Westeuropa inklusive der Schweiz bedeutet das: Wir müssen die Emissionen bis 2050 auf praktisch null herunterkurbeln. Reto Knutti: «Daran ändern auch weniger Kinder in Afrika nichts.»