Das musst du wissen

  • Angebote und Informationen zu Corona stellten die Krankenversicherungen fast ausschliesslich online zur Verfügung.
  • Damit konnten aber Personen, die sich nicht aktiv informieren, nicht erreicht werden.
  • Zurückhaltend war die Kommunikation beim Thema Impfen.
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Im Fall einer Katastrophe gilt: Wichtige Informationen müssen so schnell wie möglich an die Bevölkerung gelangen. Zum Beispiel, wenn irgendwo das Trinkwasser verunreinigt ist. Oder, wenn eine Pandemie über die Welt hereinbricht. Wer hätte für schnelle und effiziente Information in einer Gesundheitskrise die bessere Ausgangsposition als die Krankenversicherer? Sie verfügen über die Wohn- und Mailadressen sowie Telefonnummern von jeder Person in der Schweiz. Denn jede und jeder Einzelne in diesem Land ist grundversichert. Wer also, wenn nicht die Krankenversicherer, könnte alle Menschen direkt, schnell und umfassend informieren?

Haben die Versicherer diese Chance gepackt? Haben sie ihre Verpflichtung für die Gesundheit der Schweizer Bevölkerung wahrgenommen, haben sie Aufklärung und Prävention betrieben? higgs meint: Nein. Während der gesamten Pandemie waren die Krankenversicherer nur wenig präsent, so unser Eindruck. Um dies zu überprüfen, haben wir bei den zehn grössten Kassen der Schweiz nachgefragt: Groupe Mutuel, KPT, Concordia, Assura, CSS, Visana, Sympany, Swica, Helsana, Sanitas. Zusammen versichern sie und die Mitglieder ihrer Gruppen etwas mehr als neunzig Prozent der Schweizer Bevölkerung.

Beispiele sehr guter Öffentlichkeitsarbeit

Die Umfrage zeigt: Gemacht haben die Krankenversicherer an sich viel. Einige haben Krisenstäbe einberufen, wissenschaftliche Studien finanziell unterstützt oder beispielsweise dem Schweizerischen Roten Kreuz oder der Glückskette Geld gespendet. Vieles war Aufklärung und Prävention: Dazu gehörten Online-Checks, Online-Trainings, Informationen und Empfehlungen rund um Corona, Impfnebenwirkungen, psychische Gesundheit und Homeoffice.

Nur gerade ein Versicherer hielt sich raus: «Es ist nicht unsere Aufgabe, Prävention zu betreiben», vermeldet eine Sprecherin von Assura auf Anfrage von higgs. Diese Aussage schockiert Suzanne Suggs, Kommunikationswissenschaftlerin von der Universität Lugano und Mitglied der Science-Taskforce. «Gesundheitsvorsorge, Früherkennung von Krankheiten und Prävention ist ganz klar Aufgabe der Krankenversicherer», sagt sie. Das steht ausdrücklich auch im Bundesgesetz: «Die Versicherer fördern die Verhütung von Krankheiten». Aus wirtschaftlicher Sicht funktioniere Versicherung am besten, wenn der grösste Teil der Bevölkerung gesund sei, sagt Suzanne Suggs. Also sollten Versicherer nur schon aus geschäftlichen Überlegungen Interesse an Prävention haben. «An ihnen liegt es, uns so gesund wie möglich zu halten und eine Überbeanspruchung des Gesundheitswesens zu vermeiden», sagt Suggs.

Bringschuld nicht eingelöst

Suzanne SuggsSCNAT

Suzanne Suggs, Kommunikationswissenschaftlerin.

Dieser Aufgabe scheinen sich – bis auf Assura – alle Versicherer bewusst zu sein, wie die Rückmeldungen zeigen. Denn, wie gesagt: Getan haben sie viel. Die Fülle der Aktivitäten beeindruckt denn auch Suzanne Suggs. Es gibt jedoch ein grosses Aber: «Die Versicherer haben in erster Linie digitale Kanäle genutzt und die meisten Informationen auf ihre Websites gestellt», sagt die Kommunikationsexpertin. Das sei zwar wichtig, aber erst die Grundlage – «just basic», wie sie es ausdrückt. Denn erreichen würde man damit nur Personen, die aktiv nach solchen Gesundheitsinformationen suchen – also die Besorgten und Neugierigen. Das ist aber nur ein Teil der Bevölkerung. Insbesondere in einer Pandemie gelte es aber, auch alle anderen zu erreichen, sagt Suggs: die Sorglosen, die News-Ignorierenden, die Kritischen. «Ihnen müssen wir die Informationen aufdrängen, ohne dass sie danach fragen».

Wie das geht? Zum Beispiel mit dem guten alten Werbeplakat. Tatsächlich hängen Krankenversicherungen ihre Botschaften gerne an Bahnhöfen oder anderen stark frequentierten Orten auf. Das taten einige auch während der Pandemie. Doch wie lautete die Botschaft der Helsana?  «Lache, es stärkt. Die Immunabwehr verbessert sich». Gut gemeint, aber angesichts einer potenziell tödlichen Infektionskrankheit wie Sars-CoV-2 ziemlich unbedarft.

Das Plakat der Helsana-Kampagne "Lache, es stärkt. Die Immunabwehr verbessert sich." mit einer lachenden Frau drauf.thjnk

Ein Plakat der Helsana-Kampagne.

Eine weitere analoge Möglichkeit: Informationen per Post verschicken. «Am besten erreicht man die Leute aber, wenn man sie anruft», sagt Suggs. Das haben nur einige wenige Versicherer gemacht. Auf die Frage, wieso sie ihre Kunden nicht proaktiv kontaktiert haben, wendet die Sprecherin der Swica Silvia Schnidrig ein, für flächendeckende Anrufe habe es keinen Grund gegeben. Und ein Briefversand sei bei Tausenden Versicherten zu aufwändig und teuer. Eine eher seltsame Antwort angesichts der Tatsache, dass nicht wenige Krankenkassen praktisch ununterbrochen per Telefon neue Kundinnen und Kunden zu gewinnen suchen. Weiter führt Schnidrig aus, die Situation habe sich vor allem zu Beginn der Pandemie derart schnell verändert, dass man mit Briefen nie aktuell gewesen wäre. Das bestreitet auch Kommunikationsexpertin Suggs nicht. Die epidemiologische Lage entwickelte sich ständig weiter, es gab viele Unsicherheiten. Mit dieser Entwicklung Schritt zu halten und die Bedürfnissee der verschiedenen Zielgruppen aufzuschlüsseln, und dann so zu kommunizieren, dass es alle verstehen, sei nicht leicht. Trotzdem seien die Versicherer an dem pandemischen Kommunikationschaos mitschuldig. Aber nicht nur sie, alle Player hätten  in dieser Gesundheitskrise nicht genug getan. «Wir alle hätten viel mehr machen können», sagt Suggs.

Auch beim Impfen: Chance verpasst

Auffällig ist die Zurückhaltung der Krankenkassen vor allem beim Thema Impfen. Hier lag der kommunikative Fokus einiger auf der Frage der Kostendeckung – so richtig anpreisen wollte die Spritze niemand. Der Verdacht liegt nahe, dass niemand mit Impfpromotion Impfunwillige vergraulen wollte – womöglich könnten ja impfkritische Personen die Grundversicherung wechseln. Die Tatsache, dass man eine Lösung über die beiden Branchenverbände Santésuisse und Curafutura gesucht hat, scheint diesen Verdacht zu bestätigen. Diese Lösung war sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner, der niemandem weh tat: Man unterstützte die nationale Impfwoche vom 8. bis zum 14. November 2021. Dabei war jedes Mitglied der Verbände frei zu entscheiden, in welcher Form es mitmachen wollte. Matthias Müller, Sprecher von Santésuisse sagt: «Obwohl die Krankenversicherer alle Versicherten, auch Ungeimpfte, gleich behandelt, war es den Krankenversicherern ein Anliegen, die nationale Impfwoche zu unterstützen. Eine deutliche Mehrheit der grösseren Mitglieder von Santésuisse hat das durch die Verbreitung der BAG-Botschaft auch getan.» Konkret heisst das: Die Kampagnenbilder des Bundes auf den digitalen Kanälen zu teilen. Besonders aktiv war hierbei etwa die Swica – viele andere entschieden sich aber, den Ball möglichst flach zu halten. Und um so manch andere blieb es auch in dieser Impfwoche still.

Eine Ausnahme zur rein digitalen Verbreitung war die CSS. Sie organisierte einen Shuttle-Bus, der Interessierte zum Impfschiff auf dem Vierwaldstättersee brachte. Das Angebot galt aber nur für Mitarbeitende.

Impfung hätte wohl Geld gespart

Suzanne Suggs könne diese Zurückhaltung «irgendwie auch verstehen», sagt sie. Aber: akzeptieren tue sie sie nicht. «Die Aufgabe der Versicherer ist es, wissenschaftlich zu sein und etwas zu fördern, das ihre Kundschaft schützt.» Man müsse die Kundinnen und Kunden ja nicht zum Impfen drängen, aber sie müssen informiert werden, meint die Kommunikationsexpertin. Und weil eben alle in der Schweiz versichert sind, wären sie der wohl effizienteste Wege gewesen, um alle über die Vorteile der Impfung zu informieren. Der Aufruf zum Impfen hätte sich auch monetär ausbezahlt, sagt Suggs. Denn die Impfung schützt nachweislich vor Hospitalisierungen, wie auch die Daten des BAG zeigen, und ist günstiger als ein Aufenthalt im Spital.

Erfolgschance ungewiss

Wie viel Geld die Krankenkassen genau hätten sparen können, ist aber schwer zu beziffern. Für Marc Höglinger, Gesundheitsversorgungsforscher am Institut für Gesundheitsökonomie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, steht denn auch eine andere Frage im Zentrum und zwar, wie die Krankenkassen die Impfung aktiv hätten fördern können. Aber: «Anreize wären wohl nicht gut angekommen. Krankenkassen werden in der Öffentlichkeit oft nicht als Anwalt der Bevölkerung wahrgenommen, darum hätte ein Aufruf zum Impfen nicht unbedingt viel bewirkt», sagt Höglinger. «Denn andere Akteure haben das ja auch versucht, mit beschränktem Erfolg.» Seiner Einschätzung nach war der Hauptbremser die Politisierung des Impfentscheids gepaart mit der bestehenden generellen Impfskepsis in Teilen der Bevölkerung. «Gravierend ist der immer noch relativ hohe Anteil an Ungeimpften bei den über sechzig Jährigen, die für die Mehrzahl der Hospitalisierungen, Intensivaufenthalte und Todesfälle verantwortlich waren», sagt Höglinger. Mitte März beläuft sich die Zahl dieser Personen auf mehr als 200 000. «Eine tragische und kostspielige Sache, dass wir es nicht geschafft haben, hier eine höhere Impfrate zu erreichen.»

Ob die Krankenkassen hier also viel hätten bewirken können ist unklar – einen Versuch wert gewesen wäre es aber allemal. Die Kommunikationsexpertin Suzanne Suggs sagt: «Die breite Bevölkerung denkt, dass die Kassen nur ihr Geld wollen. Ich glaube, dass es sich hier um ein Missverständnis handelt.» Denn die Kassen verdienen zwar Geld an uns, haben aber auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir über alle Gesundheitsdienste, die uns zur Verfügung stehen, Bescheid wissen, sagt Suggs. «Insbesondere über einen Dienst, der so wichtig ist, um Krankheiten vorzubeugen.» Wenn auch nicht zwingend lukrativ oder erfolgreich, Impfpromotion wäre damit eine verantwortungsvolle Aufgabe gewesen.

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