Das musst du wissen

  • Rund zwei Prozent des Genoms von allen Menschen ausserhalb von Afrika stammen von Neandertalern ab.
  • Die Kreuzung ermöglichte es den Menschen damals, besser mit Kälte und Krankheitserregern umzugehen.
  • Manche der geerbten Mutationen begünstigen heute das Risiko für Krankheiten im heutigen Menschen, andere verringern es.

Herr Quintana-Murci, vor einigen Monaten wurde entdeckt, dass eine vom Neandertaler geerbte Mutation schwere Covid-Fälle begünstigen soll. Es kursiert auch die Idee, dass das Erbe unseres verschwundenen Cousins an verschiedenen Krankheiten beteiligt ist. Hat der Neandertaler diese schlechte Presse verdient?

Man muss wissen, dass alle Nicht-Afrikaner zwischen zwei und zweieinhalb Prozent ihres Genoms von Neandertalern geerbt haben. Natürlich haben nicht alle betroffenen Regionen des Genoms zwangsläufig Auswirkungen auf die Genexpression. Aber einige hatten einen entscheidenden Einfluss auf die Evolution der Art, indem sie bestimmte evolutionäre Vorteile weiterführten. Dies gilt insbesondere für das Immunsystem, wie wir mit meinem Team 2016 gezeigt haben. Aber was zu einer bestimmten Zeit von Vorteil war, kann Tausende von Jahren später schnell zu einer Belastung werden. Nicht nur das Genom, sondern auch die Umwelt beeinflusst seine Ausprägung.

Lluís Quintana-Murci

Lluís Quintana-Murci arbeitet am Collège de France, wo er den Lehrstuhl für Humangenetik und Evolution innehat. Zudem leitet er die Abteilung für evolutionäre Humangenetik am Institut Pasteur in Paris. Anlässlich der Verleihung der akademischen Latsis-Preise 2020 und 2021 hat er am Dienstag, den 16. November 2021 einen Vortrag an der Universität Genf gehalten.

Es wurden nämlich Mutationen in mehreren Genen auf Chromosom 3 identifiziert, welche vom Neandertaler geerbt wurden und mit einem dreifach erhöhten Risiko verbunden sind, eine schwere Form von Atemnot zu entwickeln. Von diesen Mutationen sind etwa 16 Prozent der Europäer, fünfzig Prozent der Inder und sogar 62 Prozent der Bangladescher betroffen. Sie sind ein vergiftetes Geschenk des Neandertalers. Andererseits können andere Mutationen, die von unserem Cousin weitergegeben wurden, diesmal auf Chromosom 12, eine schützende Wirkung haben. Und das Risiko, schwer an Covid zu erkranken, um 22 Prozent senken, wie eine 2021 im Fachmagazin PNAS veröffentlichte Arbeit zeigt.

Grundsätzlich ist das genetische Erbe des Neandertalers also weder gut noch schlecht. In jedem Fall kann man davon ausgehen, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt in unserer Geschichte günstig war, da es sich bis heute fortgesetzt hat.

Das Neandertaler-Erbe ist faszinierend: Die genealogischen Gentests von 23AndMe geben zum Beispiel einen Einblick in das Neandertaler-Erbe. Ist das eine Spielerei?

Solange es nicht mit Gesundheitsdaten in Verbindung gebracht wird, sehe ich kein Problem darin, es ist ein Geschäft wie jedes andere. Man kann es nutzen, um herauszufinden, ob man nicht ein bisschen italienisch, schweizerisch oder spanisch ist. In Europa ist man an solchen Dingen wenig interessiert, aber in Amerika gibt es eine regelrechte Besessenheit zur Frage, woher man kommt. Natürlich ist das keine ernsthafte Genetik, sondern eher ein spielerischer Ansatz.

Ihr Werdegang ist ziemlich international. Wie kamen Sie zum Institut Pasteur in Paris?

Ich bin in Palma de Mallorca in Spanien geboren und habe in Barcelona Biologie studiert. Meinen Doktortitel in Genetik habe ich an der Universität Pavia in Italien gemacht. Ich kam für eine Postdoktorandenstelle ans Institut Pasteur, wo ich zwei Jahre bleiben sollte und schliesslich über 22 Jahre blieb. Das Institut Pasteur ist der Tempel der Human- und Infektionsbiologie. Und ein grossartiger Ort, um die Populationsgenetik für ein besseres Verständnis der Geschichte des Menschen zu nutzen. Ich konnte voll in die interdisziplinäre Zusammenarbeit tauchen und mich mit Fragen auseinandersetzen, die bis dahin nur von Virologen oder Infektiologen behandelt wurden. Und auf persönlicher Ebene habe ich Paris viel mehr genossen als Italien. Paris ist ein guter Kompromiss zwischen dem Süden und dem Norden.

Im April enthüllte Ihr Team in Nature eine viel beachtete Arbeit über die Besiedlung der Pazifikinseln vor 45 000 bis tausend Jahren, in der die genetische Vielfalt dieser Weltregion untersucht wurde.

Heute weisen die Populationen Ozeaniens zwei bis drei Prozent genetisches Material auf, das von Neandertalern geerbt wurde. Dieses Erbe ist erstaunlich homogen und an einer Vielzahl verschiedener Erscheinungsbilder beteiligt: zum Beispiel Pigmentierung und Stoffwechsel. Im Gegensatz dazu ist der von Denisova geerbte Teil des Genoms extrem heterogen und reicht von null Prozent auf den Philippinen bis zu drei Prozent in Papua-Neuguinea. Und dieser Anteil ist ausschliesslich am Immunsystem beteiligt.

Was wir daraus lernen können, ist, dass Menschen vor etwa 60 000 Jahren aus Afrika emigrierten, sich dann mit Neandertalern mischten, um sich besser an andere Klimazonen, insbesondere an Kälte, anzupassen. Als sich die Menschen schliesslich in Asien mit Denisova mischten, wurden sie resistenter gegen neue Krankheitserreger.

Das Wissen über die menschliche Herkunft hat uns mit der Untersuchung des Genoms eine ganz neue Welt eröffnet.

Ich möchte betonen, dass das grundlegende Wissen darüber in den letzten zwanzig Jahren gewonnen wurde. Noch vor zehn Jahren wusste man nicht, dass sich Sapiens und Neandertal vermischt hatten. Man kannte nicht einmal die Existenz des Denisova-Menschen. Die Vergangenheit zu sezieren ist jedoch in erster Linie ein Werkzeug, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu planen. Wir stammen von Menschen ab, die grosse Epidemien überlebt haben, und dieses Erbe kann nun im Genom sichtbar gemacht werden. Dies ermöglicht einen anderen Blick auf die Zukunft, insbesondere dank der Präzisionsmedizin. Dann darf man nicht vergessen, dass auch unser Lebensstil und unser gesamtes Umfeld eine Rolle spielen. Man sollte das Genom weder verherrlichen noch verteufeln.

Gestatten Sie eine etwas dreiste Frage. Anfang Oktober empfahl Le Point dem Polemiker Eric Zemmour, Ihr Buch «Auf den genetischen Spuren von Migration, Vermischung und Anpassung» zu lesen. Was löst das bei Ihnen aus?

Um ehrlich zu sein, macht mir das Angst. Natürlich verurteile ich als Individuum die Äusserungen von Eric Zemmour. Aber die Wissenschaft darf nicht instrumentalisiert werden. Die Wissenschaft fusst auf Tatsachen! Angenommen, meine Arbeit hätte das Gegenteil über die Vermischung von Genen bewiesen. Würde das bedeuten, dass man alle Migranten rausschmeissen muss? Nein, denn das ist keine Wissenschaft, sondern Ideologie.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

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Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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