Aufgewachsen ist Jacques Kuhn im Tösstal. Und dort lebte er auch noch bis zu seinem Tod im Alter von 97 Jahren. Sein Vater, ein Maschineningenieur aus Fehraltorf, hatte nach dem Ersten Weltkrieg eine konkursite Metallwarenfabrik in Rikon kaufen können. «Er war ein Erfinder durch und durch», beschreibt ihn Kuhn in dem Buch Das volle Leben – Männer über 80 erzählen. Der Vater habe gemerkt, dass Aluminium das kommende Metall war, und er habe sich mit der Firma Therma zusammengetan, die gerade den Elektroherd auf den Markt gebracht hatte. Das bedeutete eine Revolution in den Küchen. Seit Menschengedenken hatte man über dem Feuer gekocht, mit Kupfer- und Messingtöpfen oder mit schweren Gusseisenpfannen. «Diese Töpfe taugten nicht mehr auf den neuen Elektroplatten», erzählt Jacques Kuhn in seiner Biografie, die die Autorin Susanna Schwager niedergeschrieben hat.
Sein Vater erfand ein spezielles Verfahren, mit dem sich aus Aluminium stabile und gut leitende Pfannenböden herstellen liessen. «Die Frauen waren begeistert von den neuen Herden und von den leichten Pfannen», berichtet Jacques Kuhn.
Aber dann erkrankte der Vater an einem Gehirntumor. Er drohte zu erblinden. Die einzige Hoffnung war eine Operation am offenen Schädel. 1932 wurde er in Berlin operiert, der Tumor entfernt. Erfolgreich, wie es zuerst hiess. Doch in der Nacht nach dem Eingriff starb er. «Eine Katastrophe», erinnert sich Jacques Kuhn. Er war vierzehn, sein Bruder Henri stand gerade vor der Matura. Die Mutter hatte keine Ahnung vom Geschäft. Also kamen die Brüder der Mutter und übernahmen die Firma interimistisch. Sie beschlossen, dass einer der Jungen die Firma übernehmen musste, damit sie in der Familie bleibt. Natürlich kam nur der Ältere, Henri, in Frage. Dabei hätte er Literatur und Kunst studieren wollen. Doch er machte das Beste daraus, in einer Zeit, die denkbar schwierig war: Es herrschte Wirtschaftskrise, grosse Arbeitslosigkeit. Die Leute hatten kein Geld und andere Sorgen als neue Pfannen. Und kaum hatte Henri langsamm Tritt gefasst, kam 1939 ein neuer Krieg. «Henri hatte die schwierigsten Startbedingungen, die man sich denken kann», erzählt Jacques Kuhn im Buch Das volle Leben.
«Wir hatten ein Leben lang ein Wunderverhältnis», berichtet Jacques. Henri sei ihm gegenüber immer äusserst grosszügig gewesen. Er wollte, dass der jüngere Bruder seine Pläne umsetzen konnte. Und er ermöglichte ihm das Studium am Polytechnikum in Zürich.
«Heute ist alles dem Geld unterworfen, und das ist schlecht.»Jacques Kuhn
Doch bevor auch Jacques in die Firma einstieg, gab es noch einen längeren Abstecher in die USA. Dort fand er einen Platz an der Ingenieurschule in Detroit. Den Dreijahreskurs am Abendtechnikum absolvierte er in neun Monaten. Daneben blieb nicht viel Zeit für anderes, wie er berichtet. Untergebracht war der junge Schweizer in der Familie eines Mitschülers, Methodisten. «Am Sonntag sang ich im Kirchenchor; nachher zogen die Mädchen ihre braven Röcke aus, und in Shorts ging es an den Lake Michigan. Eine fidele Zeit war das. Frauengeschichten gab es aber keine.»
Nach dem Abschluss in Detroit lernte Jacques Kuhn noch Autofahren und reiste durch das Land, um sämtliche Fabriken zu besuchen, die Haushalts- und Kochgeräte herstellten.
Als er mit dem gesammelten Wissen 1947 wieder in die Schweiz zurück kam, teilten sich die Brüder die Aufgaben in der Pfannenfabrik auf: Henri machte Kundendienst und das Kaufmännische. Jacques übernahm das Technische und die Entwicklung neuer Produkte. Die beiden stellten ihr ganzes Leben voll und ganz in den Dienst der Firma. «Etwas Neues zu schaffen, mit einer guten Equipe etwas zu entwickeln», dies sei für sie das Grösste gewesen. «Es ging uns nicht darum, möglichst schnell Geld zu machen. Was wir verdienten, steckten wir in den Betrieb. Heute ist alles dem Geld unterworfen, und das ist schlecht.»
Als Erstes führte Jacques die Fliessbandfertigung nach amerikanischem Muster ein. «Die Mitarbeiter waren begeistert und stolz, so modern arbeiten zu können.» Er ist sich bewusst, dass der Aufschwung, den die Firma dann nahm, der Loyalität der Angestellten zu verdanken sei. Und betont immer wieder, wie wichtig auch die Arbeitsteilung zwischen seinem Bruder und ihm gewesen sei. «Henri war der Gestalter, ich ein Chlütteri.» Er habe alles vergessen, wenn er herumtüfteln konnte. Habe oft Tag und Nacht daran gearbeitet und nichts vermisst. «Nicht einmal eine Frau.»
Er, der selber gerne kochte und dabei viele Einfälle gehabt habe, tüftelte an einem neuen System für einen Dampfkochtopf. Es gab auf dem Markt ein Modell, das aber einen «grauslichen Lärm» machte. Wenn der Topf Überdruck hatte, hob es einen Gewichtsstein im Ventil, der Dampf zischte heraus. Weil die Hausfrauen das Scheppern und Zischen lästig fanden, hätten sie einfach einen feuchten Lappen auf das Ventil gelegt oder an der Mechanik herumgeschräubelt. So sei es immer wieder zu Unfällen gekommen.
Jacques Kuhn entwickelte einen Dampfkochtopf mit einem Ventil, das nicht mehr lärmte und an dem die Frauen nichts mehr schräubeln konnten. Das Gerät kam 1949 als Duromatic auf den Markt, und es war so erfolgreich, dass sein Name heute in der Schweiz ein Synonym für Dampfkochtopf ist.
Das blinde Vertrauen zwischen Jacques und Henri sollte schlimme Folgen haben. Henri starb 1969 mit fünfundfünfzig Jahren an einem Herzstillstand. «Eine Katastrophe», erinnert sich Jacques Kuhn. Denn er selbst hatte keine Ahnung vom Kaufmännischen oder vom Marketing. Und wieder seien es die Mitarbeiter gewesen, die ihm geholfen hätten. Er habe ihnen den Ernst der Lage erklärt. Alle haben zu ihrer «Pfanni» gehalten. Bereits nach einem Jahr hatte die Firma die Schwierigkeiten überwunden.
Doch was wäre Kuhn Rikon ohne die Tibeter? Sie sind ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der Firma und des Dorfes. Nach dem grossen Volksaufstand der Tibeter im Jahre 1959 gegen ihre chinesischen Unterdrücker musste das geistige und weltliche Oberhaupt, der Dalai Lama, fliehen. Mit ihm gingen Tausende Männer, Frauen, Kinder. Viele verhungerten, erfroren oder verunglückten bei der Flucht über den Himalaya. Viele wurden von den Chinesen getötet. Als sie in Nepal ankamen, war die Lage verzweifelt. Da beschloss die Schweiz als erstes Land im Westen tausend Tibet-Flüchtlinge aufzunehmen.
In Rikon gab es ein Benefizkonzert, welches Jacques und Henri besuchten. «Zwei Tage später riefen wir beim Roten Kreuz an und erklärten, wir würden eine Flüchtlingsgruppe aufnehmen.»
«Das Beste für Asylsuchende aus Ländern mit streng autoritären Regierungen ist, wenn man ihre eigenen Seelsorger und Lehrer mit ins Gastland holt. So sind die Integrationschancen bei weitem besser.»Jacques Kuhn
Dies sei nicht ganz uneigennützig gewesen, gibt Jacques Kuhn zu. Die Firma hatte gerade eine Siedlung für ihre Angestellten gebaut; aber die Wohnungen standen noch leer. Es herrschte Personalknappheit, an der alle Betriebe litten. Da hat die Firma Kuhn beschlossen, Tibeter aufzunehmen und so das Nützliche mit dem Guten zu verbinden: Die Firma fand Arbeiter, die Flüchtlinge eine Heimat. Doch Kuhn betont, wie sorgfältig das Ganze vorbereitet worden sei. Bevor die Tibeter 1964 in Rikon einzogen, habe ein Vertreter des Roten Kreuzes sie besucht. Dieser hatte mit seiner Frau zuvor selbst zwei Tibeterbuben adopiert, nach einer Weile aber gemerkt, dass sie die Kinder aus ihrer Gemeinschaft herausgerissen hatten und diese nur «halbe Schweizer» wurden und Tibet verloren gingen. Darum mussten in Rikon die Gemeindebehörden und die Lehrer zusichern, den Tibetern ihre Kultur zu lassen, so dass sie irgendwann in ihre Heimat zurückkehren könnten.
«Aber nach einer Weile begannen die Probleme» erzählt Kuhn. Die jungen Tibeter hätten sich auf alles gestürzt, was neu für sie war. Fernseher, Töffli, Mode. Die Alten dagegen blieben unter sich, liefen in traditionellen Trachten und mit Gebetsmühlen durchs Dorf. Es gab Spannungen. Darauf reisten Bruder Henri und seine Frau nach Indien und baten beim Dalai Lama um eine Audienz. Sodann wurden ein tibetischer Abt und vier Mönche nach Rikon geschickt, um sich um die Flüchtlinge zu kümmern. Die Kuhns gründeten 1967 das Tibet-Institut Rikon, was sich als segensreich entpuppte. Nicht nur lösten sich die Probleme der Flüchtlinge in Rikon, sondern das Institut entwickelte sich zu einem der bedeutenden religiösen Zentren für Tibeter in der Schweiz und im nahen Ausland. Zeitlebens war Kuhn überzeugt, «dass es das Beste ist, wenn man für Asylsuchende aus Ländern mit streng autoritären Regierungen ihre eigenen Seelsorger und Lehrer mit ins Gastland holt. So sind die Integrationschancen bei weitem besser.» Der Dalai Lama selbst habe das Institut und Kloster zwölfmal besucht. «Er kam zum Mittagessen und spazierte im Garten herum», berichtet Kuhn, dessen Leben seither untrennbar mit Tibet verbunden bleibt.

Das Tibet-Institut in Rikon.
Mit fünfundsechzig hörte er auf in der Firma. Die Tochter des Bruders heiratete einen Physiker, der nach Kuhn lange das Unternehmen führte. Es sei ihm überhaupt nicht schwer gefallen, den Betrieb abzugeben. Dann habe ihm aber die Verbundenheit mit Tibet zu seiner «letzten Dummheit» in seinem Leben verholfen. Er kümmerte sich um das Tibet-Institut, wo es Arbeit genug gab. Als Erstes baute er ein neues Haus für die Bibliothek und stellte eine Bibliothekarin ein. Über zehn Jahre arbeitete er mit dieser «wunderbaren Frau», sagt er, der nie eine feste Bindung eingehen wollte. Aber dann – er war mittlerweile 90 Jahre alt – haben die beiden geheiratet. «Das hätte ich mir nie träumen lassen.» Sie ist Buddhistin, er Protestant. Sie rund 20 Jahre jünger. Aber «das geht bestens», sagt er. «Da werden die Diskussionen interessant.»
«Im Moment denke ich über Kinderwagen nach», schliesst sein biografischer Bericht. Die Modelle, die auf dem Markt sind, überzeugen ihn überhaupt nicht. Darum wolle er im nächsten Leben anständige Kinderwagen bauen. «Vielleicht kommen Roswitha und ich ja wieder und werden wieder ein Paar. Und vielleicht werden wir noch ein wenig jünger sein und die Kinder haben, für die es jetzt zu spät ist. Dann wäre bei den Kindern doch schon vorgesorgt.»
Kreativ blieb Jacques Kuhn bis zum Schluss: Zusammen mit Roswitha hat er ab 2013 drei Krimis publiziert, in denen der Dorfpolizist Noldi Oberholzer im Tösstal ermittelt. Am Jahresende 2016 ist er nach einem kurzen Spitalaufenthalt mit 97 Jahren verstorben.