Den Text vorlesen lassen:

Wer zwischen 1930 und 1965 im mittleren Thurgau aufwuchs, der hatte gute Chancen, eines Tages vor der Linse der Fotografin Martha Gubler-Waigand zu landen. Sie war eine der ersten Frauen der Ostschweiz in dem Metier – und spezialisiert auf Kinderporträts. Ein Kind, das einen Foto-Termin mit Frau Gubler hatte, begab sich für damalige Verhältnisse auf ein Abenteuer: Gleich nach dem Mittagessen hatte man das Sonntagsgwändli aus dem Schrank geholt, die Frisur gemacht. Vielleicht war es eine längere Fahrt bis nach Weinfelden, mit dem Zug oder dem Postauto. Aufgeregt bog man dann links vom Rathausplatz in die Frauenfelderstrasse ein, streckte noch rasch die Hand ins kalte Brunnenwasser und ging dann die Treppe vor dem grossen Riegelhaus hoch und klingelte. Die Lehrtochter führte die kleinen Gäste in den grossen Atelierraum, der voller Möbel und Apparate auf Ständern war. Da stand diese freundliche Frau mit den blonden hochgesteckten Haaren und dem weissen Kittel und hielt gleich ein paar Spielsachen bereit. Schnell war die Furcht verflogen, neugierig schaute man ihr zu, wie sie ganz nebenbei mit dem Fotoapparat klickte und weiter freundlich mit einem sprach.

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So oder ähnlich muss es den Kindern von damals in Erinnerung sein. Vielleicht auch den vielen Brautpaaren, die hier am Tag der kirchlichen Trauung vorbeikamen, um das wichtigste Erinnerungsfoto ihres Lebens zu machen. So kann es nicht erstaunen, dass die Fotografin auch heute noch vielen Menschen in und um Weinfelden in lebhafter Erinnerung ist. Anlässlich ihres 100. Geburtstages am 20. Februar 2002 sagte Martha Gubler-Waigand in einem Interview in der Thurgauer Zeitung: «Das Wichtigste war, den Zugang zu all den Menschen zu finden, die vor meiner Kamera standen. Ganz besonders bei den Kindern.»

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Martha Waigand im Jahr 1930.

Martha Waigand wurde 1902 in Freiburg im Breisgau als Tochter eines oft mürrischen Steinmetzes geboren. Die verwitwete Mutter hatte diesen in zweiter Ehe geheiratet. Martha wuchs mit zwei grösseren Halbgeschwistern und einer jüngeren Schwester auf. Bereits mit 14 Jahren trat sie im Atelier Lichtkunst in Freiburg im Breisgau bei zwei Lehrmeisterinnen die Ausbildung zur Fotografin an. Dass es auch als Frau möglich war, von der Fotografie zu leben, bekam sie dort mit.

In Deutschland fand Martha nach der Lehre jedoch keine Stelle. Es herrschten Chaos und Inflation. So meldete sie sich auf ein Inserat in der Schweizerischen Photo-Zeitung für eine Stelle in Frauenfeld – und wurde prompt mit 20 Jahren Filialleiterin des kleinen Ateliers Schatzmann. Die Arbeit war aber hart: Das Geschäft war montags bis samstags geöffnet bis 19 Uhr, sonntags bis 16 Uhr – bei 14 Tagen Ferien im Jahr.

1926 gab sie ihre Stelle auf, um ihren kranken Vater zu pflegen. Zwischen 1926 und 1930 arbeitete sie in Olten, Luzern und Bern als Angestellte in verschiedenen Fotogeschäften. Im April 1930 dann war es so weit: Martha Waigand konnte mit Unterstützung ihrer Thurgauer Bekannten in Weinfelden selber ein kleines Fotoatelier eröffnen. Fein säuberlich begann sie in einem Kundenauftragsbuch mit der Eintragung Nr. 1. Fortan wurde jeder Auftrag verzeichnet, inklusive Kostensumme. So kamen bis 1965 über 10 000 dokumentierte Kundenaufträge zusammen. Die Fotonegative sind unter grossem Aufwand digitalisiert worden und heute im Thurgauer Frauenarchiv öffentlich zugänglich.

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Martha Waigand-Gubler war spezialisiert auf Kinderfotografie.

Diese Bücher zeigen, dass ihre Kundschaft stetig zahlreicher wurde und die Aufträge über die Jahre kontinuierlich zunahmen. Bereits 1931 hatte sie eine erste Lehrtochter. Einer ihrer Kunden war der Kunstmaler Conrad Gubler. Sie hatte ihn anlässlich einer Ausstellung seiner Gemälde im Rathaussaal 1939 kennen gelernt. Von ihr liess Gubler seine Bilder fotografieren – und die beiden verliebten sich. Sie heirateten im Oktober 1934, eine kurze Flitterwoche führte ins Tessin. Bald schon wuchs die Familie um die beiden Söhne Conrad und Peter. Dank einer Erbschaft kauften sie das grosse Haus an der Hauptgasse 230: Es bot Platz für die Familie, für Laden und Labor sowie Ateliers für Martha und Vater Conrad.

Dann kam der Krieg. Der Kunstmaler Gubler musste ab 1939 Aktivdienst leisten. Das Geschäft lief zwar auch in den Kriegsjahren erfreulich, oft konnte Martha Gubler jedoch erst nachts im Labor in Ruhe die Fotos entwickeln, tagsüber blieb neben der Geschäftstätigkeit und der Familie keine Zeit dafür. Es war eine strenge und unsichere Zeit, die Martha Gubler-Waigand an den Rand ihrer Kräfte brachte.

1941 und 1945 waren die Söhne Martin und Hans geboren worden. Die Kinder und der Haushalt wurden bereits in dieser Zeit betreut von Margaretha Altersberger, von allen «Aja» genannt, die Österreicherin, die über all die Jahre zum festen Familienmitglied wurde. Martha erwirtschaftete das Familieneinkommen, da der Ehemann als Kunstmaler nur wenig einnahm. Diese Rollenteilung war damals durchaus unüblich, Martha Gubler empfand sie aber nie als besonders. Dass die Kinder zuweilen ein engeres Verhältnis zu Aja hatten als zu ihr selber, war hingegen nicht immer einfach für sie, auch wenn ihr der Beruf grosse Befriedigung brachte und in den 1950er-Jahren weiterhin viel Arbeit im Geschäft anfiel.

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Das noch heute existierende Gublerhaus ca. 1938 vor der Aussenrenovation.

Martha Gubler blieb interessiert an der Entwicklung der Fotografie, besuchte Kurse, bildete Lehrlinge aus, mit denen sie teilweise noch jahrelang freundschaftlichen Kontakt hielt. Eine Spezialität von ihr waren die Porträts, die sie in Brauntönen entwickelte. Das Porträtieren von Kindern wurde ihr Markenzeichen. Zu ihrem Kerngeschäft gehörten aber auch die Konfirmandenfotos im Frühling, darauffolgend im Mai die Hochzeitsreportagen. Oft fuhr sie dafür am Wochenende mit der schweren Ausrüstung auf dem Gepäckträger von Weinfelden aus mit dem Velo in die Dörfer der Umgebung. Auch örtlich wiederkehrende Ereignisse wie die Herbstmesse WEGA mit ihren Ständen und dem legendären Seifenkistenrennen, die Eröffnung des ersten Selbstbedienungsladens oder Erfindungen des lokalen Gewerbes hielt sie auf ihrer Kamera fest.

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Seifenkistenrennen an der WEGA 1957.

Die Wohnorte der Atelierkunden belegen, dass man für die Aufnahmen bei ihr einen weiten Weg auf sich nahm, die Leute kamen aus dem Umkreis von Wigoltingen bis Kradolf und von Sonterswil bis Bettwiesen. Die Kunden kamen aus allen Schichten und Berufen: Es waren Bauernfamilien, die reicheren Leute von Weinfelden, der Gewerbler, die Serviertochter, der Fabrikant, der italienische Gastarbeiter, der Männerchor oder die Lehrabschlussklasse. Die Kunden liessen sich eine Fotografie von Gubler-Waigand einiges kosten: Bereits 1930 bezahlten die meisten Kunden um die 40 Franken für die Aufnahmen. Ein gelernter Arbeiter verdiente damals etwa 160 Franken im Monat. Er musste also für eine Fotosession etwa einen Viertel seines Monatslohns ausgeben. 1936 wären es bei einem gutverdienenden Angestellten der SBB mit Monatslohn von ungefähr 400 Franken immer noch ein Zehntel dieses Lohnes gewesen.

Martha Gubler-Waigand führte bis 1965 ein florierendes Atelier. Die Söhne Martin und Peter Gubler stiegen ins gleiche Fach ein wie die Mutter, beide arbeiteten zeitweise bei ihr. Privat aber ereilten sie schwere Schicksalsschläge. 1963 beging ihr ältester Sohn Conrad Suizid. Das Geschäft übernahm zwei Jahre später ihr Sohn Peter. Doch dieser musste nach einem Schlaganfall 1983 seine Berufstätigkeit aufgeben. 1997 verstarb ihr Ehemann. Mit Aja Altersberger zusammen lebte die Fotografin weitere acht Jahre bis zu ihrem Tod 2005 im sogenannten Gublerhaus.

Trotz der Schicksalsschläge liess sie sich nicht von Verbitterung einnehmen. 1990 schrieb sie in ihren Lebenserinnerungen: «Ich möchte noch hinzufügen, dass ich dankbar bin für Freud und Leid. Sie haben mein Leben erfüllt und mich innerlich wachsen lassen.»

Pioniergeist Ostschweiz

Menschen, welche das Leben in der Schweiz und manchmal sogar im Aus­land veränderten: Solche Pio­niere gab und gibt es auch in der Ostschweiz. higgs porträtiert bekannte aber auch unbekannte Persönlich­­keiten, die Pionier­leistungen erbrachten. Wir stöbern in den Archiven, reden mit Nachkommen oder gleich mit den Pionieren und Pionierinnen selber. Diese higgs-Serie wird am Ende zu einem attraktiven Coffee-Table-Buch zusammengefasst – ganz nach dem Vorbild des Vorgänger­projektes «Zürcher Pio­­niergeist».
 
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