Das musst du wissen

  • Menschen neigen dazu, Regeln zu befolgen. Doch wenn wir sie brechen, geschieht dies meist nicht willentlich.
  • Vielmehr ahmen wir unbewusst nach, was die Menschen um uns herum tun.
  • Solche Analysen aus der Verhaltensforschung können den Behörden helfen – etwa der Polizei an einer Corona-Demo.
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Stell dir vor, du wartest an einem Fussgängerstreifen, die Ampel zeigt rot. Neben dir steht eine gute Freundin, ihr plaudert, lacht, da laufen vier, fünf Menschen neben euch plötzlich los. Was geschieht?

Oder: Du sitzt im Zug, trägst eine Corona-Schutzmaske und bist ins Gespräch vertieft. Aus dem Blickwinkel nimmst du wahr, wie die Personen im Nebenabteil auf einmal alle die Maske ans Kinn herunterziehen. Was macht das mit dir?

«Wir neigen dazu, Dinge nachzumachen, wenn andere sie vormachen.»Jens Krause, Verhaltensbiologe

Die Wissenschaft sagt: Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass du, im ersten Beispiel, ebenfalls die Strasse überquerst – selbst, wenn die Ampel noch nicht auf grün steht. Und dass du, im Beispiel zwei, die Maske ebenfalls entfernst. Denn Regelbruch ist ansteckend, weiss der Berliner Verhaltensbiologe Jens Krause: «Wir neigen dazu, Dinge nachzumachen, wenn andere sie vormachen.» Krause hat kürzlich mit einem Team von Forschenden aus Soziologie, Neurowissenschaften und Psychologie eine Übersichtsstudie zum kollektiven Regelbrechen im Fachmagazin Trends in Cognitive Sciences publiziert.

Abgelenkt werden wir zu Nachahmern

In ihrer Übersicht halten die Forschenden fest: Wenn Menschen Regeln brechen, basiert dies im Grunde auf drei kognitiven Prozessen. Diese sind: Ablenkung, Nachahmung und Änderung der Bewertung. Besonders gut zeigt sich dies im eingangs erwähnten Beispiel mit der Ampel. «Wir schauen automatisch auf Dinge, die sich bewegen – das triggert unsere Aufmerksamkeit», sagt Krause. Unsere Aufmerksamkeit verschiebt sich also von der Vorschrift – der Ampel – auf die Menschen, die loslaufen. Wir werden abgelenkt. Und ohne es zu realisieren, tun wir es ihnen gleich und marschieren ebenfalls los. «Denn wenn wir Bewegung sehen, tendieren wir unwillkürlich zu einer motorischen Nachahmung», führt Krause aus. Ausserdem neigen Menschen dazu, bei der Gruppe zu bleiben – «das ist sehr tief in uns verankert.»

Hinzukommen kann beim Regelbrechen im Schwarm ein dritter Prozess: Dass wir die Situation aufgrund des Verhaltens der Gruppe umdeuten. «Das ist dann nicht mehr die pure Nachahmung, sondern es kommt eine Evaluation hinzu», sagt Krause. Er erklärt: «Eine andere Meinung als die der Gruppe löst im Gehirn ein Konfliktsignal aus. Wir empfinden einen Konflikt mit der Gruppe als negativ und erleben es andererseits als positiv, gemeinsam mit der Gruppe zu handeln.» Wenn alle anderen bei Rot über die Strasse gehen, wird das schon sicher sein, denken wir. Wir bewerten das Geschehen also um.

Masken fallen lassen: Mehr als pure Nachahmung

Das zweite Beispiel mit der Maske ist zwar etwas weniger eindeutig, aber im Grunde spielen bei diesem Regelbruch ähnliche Mechanismen mit, sagt der Verhaltensbiologe. Wir nehmen wahr, wie andere die Maske entfernen und ahmen sie nach. Allerdings ist hier die Reaktion, das Abstreifen der Maske, weniger unwillkürlich. Das heisst, dass es im Vergleich zur automatisierten Reaktion, dem Loslaufen an der Ampel, viel bewusster geschieht – «da wir vermutlich erst darüber nachdenken», sagt Krause. «Wenn im Zug plötzlich alle ihre Masken ausziehen, denken wir, da muss wohl etwas passiert sein – der Kontext hat sich verändert», illustriert Krause. Eine Zugdurchsage vielleicht, die wir nicht mitbekommen haben. Es ist nun wohl unproblematisch, die Maske zu entfernen, so unsere Überlegung.

«Je mehr Leute etwas vormachen, desto stärker wird der Sog, es ihnen gleichzutun.»Jens Krause, Verhaltensbiologe

Entscheidend ist die Gruppengrösse

Was beide Beispiele zeigen: Auch die Zahl der Menschen, die uns einen Regelbruch vormachen, spielt eine Rolle. Zehn bis fünfzehn Prozent einer Gruppe braucht es, damit Menschen anfangen, spontan Dinge nachzuahmen, sagt Krause. «Je mehr Leute etwas vormachen, desto stärker wird der Sog, es ihnen gleichzutun.» Und wenn es die Person unmittelbar neben uns ist, steigt die Wahrscheinlichkeit gleich nochmals – im Ampelbeispiel verdoppelt sie sich sogar. Dies hat eine Untersuchung an einer grossen Kreuzung in der englischen Grossstadt Leeds gezeigt, an der Krause mitgewirkt hat.

Science-Check ✓

Studie: Collective behavior in road crossing pedestrians: the role of social informationKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Studie basiert auf der Analyse von Videoaufnahmen an einer Fussgängerüberquerung in einer Grossstadt an insgesamt sieben Tagen zur morgendlichen Rush-Hour, was ihr eine gewisse Relevanz gibt. Verzerrende Faktoren wurden vermieden, indem etwa Fussgänger ausgeschlossen wurden, die sich offensichtlich kannten, da diese mit hoher Wahrscheinlichkeit zusammen über die Strasse gehen würden. Die Studie war eine der ersten, die das Verhalten von Fussgängern an Kreuzungen untersuchte – es bedarf weiterer, um die Ergebnisse zu stützen.Mehr Infos zu dieser Studie...

Ein Regelbruch wie jener am Fussgängerstreifen geschieht zudem ganz oft ohne Absicht. Wir unterhalten uns mit einem Freund oder scrollen auf dem Handy und gehen währenddessen automatisch mit der Gruppe mit. «Wir denken in dem Moment also nicht an die Regel und finden: Da pfeife ich jetzt drauf und breche sie aktiv», sagt Krause. «Vermutlich fällen Menschen sogar die Mehrheit der Entscheide in der Öffentlichkeit beziehungsweise in Gruppen, ohne darüber nachzudenken.»

Ein weiteres Beispiel aus der Pandemie sind Protestdemos. «Ähnlich wie bei der Situation an der Ampel vollziehen sich Regelbrüche wellenartig», beschreibt Krause. Eine Person macht einen Schritt auf die gegnerische Gruppe zu, beschimpft sie, wirft im Extremfall vielleicht einen Molotowcocktail, geht danach zurück zu seinesgleichen, während andere aus der Gruppe es ihm gleichtun. Auch hier wieder: Wenn eine Person ein Verhalten vormacht, gehen als nächstes oft die direkt danebenstehenden Personen mit. Für Verhaltensforscher wie Krause bietet die Pandemie unzählige Beispiele, um Regelbrüche – sprich bei einer Demo: Eskalationen – analysieren zu können. Die Erkenntnisse könnten wiederum den Behörden helfen, etwa der Polizei. «Es geht darum, den nächsten Schritt, den nächsten Zustand einer Menge, vorauszusagen», erklärt Krause. Also bei einer Ausschreitung unter Fans im Fussballstadion zum Beispiel zu wissen: Nach aggressiven Sprechchören und dem Abbrennen von Pyrotechnik wird nun wohl bald ein Sicherheitszaun eingedrückt.

Gewaltausschreitungen: In der Gruppe trauen wir uns mehr

Nicht nur hilfreiche, sondern auch erschreckende Erkenntnisse zieht Krause aus der Verhaltensforschung: Zu Mitläufern beim kollektivem Regelbruch, etwa an den beschriebenen Gewaltausschreitungen, werden nicht zwingend nur Personen, die schon ein Vorstrafenregister haben. «Manchmal tun Menschen in Gruppen Dinge, die ihnen allein nie im Traum einfallen würden», sagt er. Dies zeige das Gefahrenpotenzial von Dynamiken, die in Kollektiven entstehen könnten. Das sei besorgniserregend. Und auch nicht unproblematisch: Krause wurde schon von Juristen kontaktiert, die mit Erklärungen aus der Verhaltensforschung die Schuldhaftigkeit ihrer Mandanten herabsetzen wollten. Im Sinne von: In einer Gruppe von so und so vielen gewaltbereiten Personen hat man einen Hang, unbewusst zum Nachahmer zu werden – ohne dass man das eigentlich will. «Wir sind keine Kriminologen», antwortet Krause dann. Der Mensch sei für das Sozialverhalten anderer empfänglich, so viel lasse sich festhalten. Aber die Frage der Schuldhaftigkeit sei damit ja nicht berührt.

Spielen die Folgen eine Rolle?

Ob schuldig im juristischen Sinne oder nicht – Konsequenzen hat das Verletzen von Regeln meist durchaus. Wenn wir uns in der Gruppe Massnahmen widersetzen – denken wir dabei an die möglichen Folgen? Missachten wir Vorschriften eher, wenn die Auswirkungen nicht besonders gravierend sind? Beim Littering im öffentlichen Raum droht der lässlichen Person maximal eine Busse, beim Überqueren der Strasse bei Rot jedoch im schlimmsten Fall der Tod. Wie viele Menschen müssen mit einem Vergehen vorangehen, damit für den Einzelnen in den Hintergrund gerät, wie einschneidend die Folgewirkungen sind? Hier halte die Forschung noch keine Antworten bereit, sagt Krause. «Er hält es aber für vorstellbar, dass Menschen in gewissen Situationen in der Gruppe so stark emotional aufgeladen sind, dass sie die Konsequenzen ihres Tuns fast gänzlich ausblenden. «Die Urteilsfähigkeit ist dann stark vermindert, ähnlich wie bei einem Alkoholrausch», vergleicht er.

Die Mechanismen, die beim kollektiven Regelbruch mitspielen, hat Krause im Alltag übrigens hautnah miterlebt: Er wartete in der Mittagspause mit einem Doktoranden vor einem Fussgängerstreifen, die beiden unterhielten sich – und fanden sich plötzlich bei Rot mitten auf der Strasse vor quietschenden Autos wieder. Unbewusst waren sie zu Mitläufern geworden.

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