Der Abschied war unspektakulär. «Letzter Gruss vom Kontinent aus. In ½ Std. fährt das Schiff. Othmar.» Eine unscheinbare Postkarte, adressiert an Mademoiselle Lilly Wehrli, Kilchberg; abgeschickt am 24. April 1904 in Boulogne-sur-Mer. Der Absender ist Othmar Hermann Ammann, ein 25-jähriger Bauingenieur, ausgebildet am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich. Ammann will Amerika entdecken. Er weiss noch nicht, dass Amerika ihn entdecken wird.

Am 8. Mai 1904 schreibt Othmar aus New York: «Meine theuerste Lilly! Endlich finde ich ein paar ruhige Momente. Die Einfahrt ist gut von statten gegangen. Ich musste natürlich nur staunen über den grossartigen Hafen von N. Y. und den Riesenverkehr, der sich da auf dem Wasser abspielt, über die Schiffe, vom kleinsten Segler bis zum mächtigsten Ozeandampfer. Nicht minder als der Verkehr auf dem Wasser hat mich der Verkehr in der Stadt in Erstaunung gesetzt, da stehen doch die europ. Städte weit zurück. Aufgefallen ist mir gleich das gesunde passige Aussehen der Bevölkerung. Du weisst, dass ich die Augen nicht zudrücke, wenn ein schönes Mädel vorbei geht, hier könnte ich wohl lange stehen und die Augen aufsperren. Werde aber nicht jalous, Du bist mir ja doch noch viel schöner als alle. Nun ist Zeit zu schliessen. Bald wirst Du mehr und genauer Bericht bekommen, wenn ich einmal besser eingenistet bin. Sei aufs Innigste geherzt + geküsst von Deinem glücklichen Othmar.» Der junge Bauingenieur schwebt im siebten Himmel. Und New York empfängt ihn mit offenen Armen. Was ist die pulsierende Metropole mit den 30-stöckigen Wolkenkratzern im Vergleich zu Feuerthalen, der Zürcher Gemeinde am Rhein, wo er am 26. März 1879 als Bürger von Schaffhausen zur Welt gekommen war und die ersten Jahre verbrachte; im Vergleich zu Bendlikon am Zürichsee, wo seine Eltern später mit ihm hinzogen; im Vergleich zu Zürich, wo er studiert hat!

Büste von Othmar Ammann im ETH Campus Hönggerberg.Wheeler Williams, ETH Zürich

Büste von Othmar Ammann im ETH Campus Hönggerberg.

Othmar Ammann spürt: In New York liegt viel drin. Aber würde man dem 25-Jährigen nun sagen, er werde zeitlebens in New York bleiben und dort als grösster Brückenbauer Amerikas mit 86 Jahren sterben, er würde dies mit Sicherheit als amerikanischen Traum abtun.

Nun gut, Ammanns Potenzial hatte bereits Sekundarlehrer Graf in Kilchberg erkannt – und in Othmars Zeugnis geschrieben: «Er ist ein begabter und sehr fleissiger Schüler. Sein gutes, stilles Betragen ist besonders zu loben.»

Sicher gehört in New York neben der Begabung und dem Fleiss auch Glück dazu. Dieses fordert Ammann hartnäckig heraus, stellt sich in vielen Ingenieurbüros vor und schreibt seinem «Herzensliebchen»: «Die Amerikaner wollen keinen nehmen, der direkt von drüben kommt. Überall heissts, es sei keine Arbeit vorhanden.» Und dann klappt es doch noch: Ein Büro stellt ihn an und er meldet in die Schweiz: «Ich habe hier eiserne Brücken zu projektieren, also das, was ich am liebsten machen wollte.»

Privates Glück findet Othmar in Lilly. 1905 heiraten sie in der Schweiz, Lilly zieht mit ihm in die USA. Zwei Söhne und eine Tochter werden der Ehe entspringen.

Othmar Ammanns Ingenieurkunst spricht sich in New York herum. 1912 stellt ihn der Staringenieur Gustav Lindenthal an. Lindenthal war selber 30 Jahre vor Ammann aus Österreich angereist und hatte es geschafft. Noch weiss er nicht, dass sein Ziehsohn Ammann ihm den Rang ablaufen wird.

So verbindend Brücken sein mögen, so konfliktgeladen kann die Planung eines solchen Bauwerks sein. Das zeigt sich an jenem Projekt, das zum Ziel hat, den Hudson River zu überwinden. Lindenthal plant eine Monsterbrücke für 12 Eisenbahngleise und 20 Fahrzeugspuren. Veranschlagte Kosten: 200 Millionen Dollar. Ammann ist entsetzt; das Projekt seines Chefs ist für ihn von gestern, und es zöge erst noch massive Verkehrsprobleme im Herzen Manhattans nach sich.

Ammann geht auf Risiko, ein Risiko, das für ihn letztlich die ganz grosse Karriere anstösst: Er hintergeht seinen Chef. In einem vertraulichen Schreiben warnt er im April 1923 den Gouverneur von New Jersey vor Lindenthals Hudson-Projekt. Als Lindenthal davon erfährt, stellt er Ammann vor die Türe. Der Schweizer lässt sich nicht entmutigen, im Gegenteil: Ende 1923 legt er dem Gouverneur sein eigenes Brückenprojekt vor: eine Hängebrücke über eine breitere Hudson-Stelle, zum viel günstigeren Preis von 30 Millionen Dollar.

1931 wird Ammanns Brücke eingeweiht. Sie heisst George Washington Bridge und wird zu einer der wichtigsten Transitachsen zwischen Manhattan und New Jersey. Ammann selber hat sie eine neue Welt geöffnet: Nunmehr amerikanischer Staatsbürger amtet der schlanke Mann mit Hornbrille, strengem Scheitel und ernstem Blick seit 1925 als Chefingenieur von New Yorks Hafenbehörde.

Bei ihrer Eröffnung im Jahre 1931 hatte die George Washington Bridge die grösste Spannweite der Welt.Paul Merino / Pixabay

Bei ihrer Eröffnung im Jahre 1931 hatte die George Washington Bridge die grösste Spannweite der Welt.

Othmar Ammann wird die George Washington Bridge später als seine «Geliebte» bezeichnen. Bei der Eröffnung ist sie mit einer Spannweite von 1067 Metern die längste Hängebrücke der Welt. Sie macht den Schweizer unter den Brückenbauern weltbekannt. Die Schweiz ist stolz auf ihren «Brücken-Ammann».

Dieser hat die Hängebrücke revolutioniert, indem er sich von der alten Schule losgesagt hat: Er erkennt, dass lange Spannweiten und elegante Brücken möglich sind, wenn nur die Stahlseile genügend dick sind. Das kommt seinem Drang zu technischer Einfachheit und zur Ästhetik entgegen – eine Hängebrücke sei nichts anderes als ein Wäscheseil, das über zwei Pfosten gespannt werde; und an dieses Seil hänge man analog der Wäsche die Fahrbahnen.

Die langen Spannweiten faszinieren Ammann. Sie machen bisher Unmögliches möglich, sie sorgen für publikumswirksame Rekorde. Noch etwas ist typisch für Brückenbauer Ammann: Er denkt an die Zukunft. Er ahnt, wie bedeutend die Autos werden und räumt ihnen auf seinen Brücken so viel Platz ein, dass auch noch Jahrzehnte später zusätzliche Spuren neben- und untereinander angefügt werden können.

Privat kommt 1933 der Rückschlag: Seine Lilly stirbt. Doch Othmar schaut nach vorn. Und weil Schicksale verbinden, freundet sich Wittwer Ammann mit der Witwe Kläry Nötzli an. Sie war ebenfalls mit ihrem Mann aus Zürich in die USA emigriert, er, ein ETH-Ingenieur, wurde in den USA als «Staumauer- Nötzli» bekannt. Zwischen «Brücken- Ammann» und «Staumauer-Nötzli» gibt es also Parallelen. Nun kommt eine ganz persönliche hinzu. Denn 1935 heiraten Othmar Ammann und Kläry Nötzli.

Beruflich ist Ammann beflügelt vom Bau der Golden Gate Bridge in San Francisco, bei der er zum wichtigen Berater geworden ist. Obwohl auf dem Papier nicht er als Erbauer gilt, ist unter den Brückenbauern klar, dass die Golden Gate mit der Spannweite von 1280 Metern unverkennbar ein Ammann-Design ist. Und wieder ist ein Spannweitenrekord mit dem Namen des Schweizers verbunden.

Den letzten Rekord bricht Othmar Ammann mit 85 Jahren. In der Hafeneinfahrt von New York eröffnet der spätere US-Präsident Franklin Roosevelt 1964 die Verrazano Narrows Bridge. Mit einer Spannweite von fast 1298 Metern zwischen den zwei Pfeilern bleibt sie bis 1981 die längste Hängebrücke der Welt – und sie ist nach wie vor die längste der USA. Ammann leitet das Projekt, von Pensionierung keine Rede. Schon 1940 hat er sich selbstständig gemacht und sich dann 1946 mit dem Betonexperten Charles Whitney zusammengetan. Das Büro Ammann & Whitney wird noch beim 50-Jahr Jubiläum der Verrazano Narrows Bridge im Jahr 2014 existieren.

1964 verleiht US-Präsident Lyndon B. Johnson dem Schweizer als erstem Ingenieur die National Medal of Science. Ein Jahr später stirbt Othmar Ammann im Alter von 86 Jahren.

Viele Jahre zuvor schon hatte der US-Literat William Lyon Phelps gesagt: «Es ist schade, dass Ammann nicht 100 weitere Jahre leben kann; denn so würde es ihm möglich, eine Brücke über den Ozean zu bauen.» Die Amerikaner haben Ammann alles zugetraut. Er hat es ihnen gedankt. Allein in New York tragen 10 Brücken Ammanns Handschrift. Nicht so in seinem Herkunftsland: Wäre das Projekt nicht am Geld gescheitert, würde eine gigantische Hängebrücke von Othmar Ammann das Genfer Hafenbecken überspannen. Doch Ammanns Dimensionen waren zu amerikanisch für die Schweiz.

Dieses Porträt stammt aus dem Buch «Zürcher Pioniergeist» (2014). Es porträtiert 60 Zürcherinnen und Zürcher, die mit Ideen und Initiative Neues wagten und so Innovationen schufen. Das Buch kann hier bestellt werden.
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