Wenn Sarah Meier* Tee trinkt, dann immer ohne Zucker und ohne Honig. Seit Kurzem weiss sie endlich, wieso. Die 28-Jährige lädt zum Gespräch ins vegetarische Restaurant Tibits ein – viel mehr als Tee konsumiert sie hier aber nicht. Auf die Frage, was sie hier essen könne, antwortet sie zögerlich: «Wahrscheinlich würde ich einen Teller voll Rösti schöpfen.» Denn die meisten Gerichte enthalten Früchte, Gemüse oder sie sind gesüsst. Alles Lebensmittel, die Sarah Meier* nicht verträgt. Nach Jahren der Ungewissheit weiss sie nun auch, weshalb. Sie leidet an hereditärer Fruktoseintoleranz, kurz HFI. Diese Krankheit ist sehr selten: Die angeborene Fruchtzucker-Unverträglichkeit kommt bei rund einer von 20 000 Personen vor.

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Bei der Stoffwechselerkrankung verhindert ein Gendefekt, dass der Körper Fruchtzucker abbauen kann. Dieser häuft sich in den Organen an und führt zu Leber- und Nierenschädigungen. Übelkeit, Erbrechen, Schwächeanfälle und lebensbedrohliche Unterzuckerungen können in der Folge auftreten. Dazu kommt eine angeborene Abneigung gegenüber fruktosehaltigen Lebensmitteln. Das heisst: Sarah Meier* bedauert nicht, all die Speisen nicht essen zu können – sie schmecken ihr ohnehin nicht.

Abschlussarbeiten Wissenschaftsjournalismus


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Fruktose findet sich wie der Name vermuten lässt in Früchten. Doch nicht nur dort. Auch viele Gemüsesorten, Hülsenfrüchte, Vollkornprodukte und Haushaltszucker enthalten Fruktose.

Der Unterschied zwischen Intoleranz und Malabsorption

«Die ersten Anzeichen einer HFI erkennen wir bei den Babys wenn sie Beikost kriegen», erklärt Matthias Baumgartner, Professor für Pädiatrie und Stoffwechsel im Kinderspital Zürich. Sobald man den Säuglingen Früchte und Gemüse gibt, zeigen sich die oben genannten Symptome. Bei Symptomen wie Blähungen und Durchfall hingegen handelt es sich in der Regel nicht um eine HFI, sondern um eine Fruktosemalabsorption. Diese kommt viel häufiger vor; etwa ein Drittel der Schweizer Bevölkerung reagiert auf grosse Fruchtzuckermengen mit Blähungen und Durchfall. Das ist unangenehm, aber nicht gefährlich. Anders bei der HFI, hier können die Symptome lebensbedrohlich sein.

Obwohl die HFI angeboren ist, wurde sie bei Sarah Meier* erst im Alter von 28 Jahren diagnostiziert. Da sie keine fruktosehaltigen Lebensmittel mag, hat sie in den letzten 28 Jahren instinktiv die richtigen Lebensmittel gegessen. Die Diagnose ist eine Erleichterung, wie sie betont. «Es macht jetzt rückblickend Vieles Sinn; wie ich bin, wie ich mich ernähre.» Vorher dachte sie, dass sie einfach besonders heikel sei. Immer wieder probierte sie Gemüse aus, vor allem wenn sie eingeladen war. Weil es ihr danach stets schlecht ging, vermutete sie eine psychologische Ursache hinter den Beschwerden. «Die auftretende Übelkeit assoziierte ich mit den jeweiligen Umständen und nahm an, dass ich mich in der Gesellschaft nicht so wohl gefühlt haben musste.»

Langer Weg zur Diagnose

Auch dachte sie lange Zeit, dass sie sich ungesund ernähre, so ganz ohne Früchte und Gemüse. Eine Ernährungsberaterin empfahl ihr, als Selbsttest ein Glas Apfelsaft auf nüchternen Magen zu trinken, da sie eine Fruktosemalabsorption in Verdacht hatte. Etwa 45 Minuten nach der Einnahme musste Sarah Meier* erbrechen. Gleichzeitig fühlte sie sich sehr schwach, hatte kalte Füsse und zitterte. Typische Symptome einer HFI. Doch die weiteren Abklärungen waren schwierig. «Meine Hausärztin hatte davon noch nie gehört, sie musste erst mal googlen.» Sarah Meier* wurde weiterverwiesen, erst an eine Gastroenterologin, dann an Laura Roose, Endokrinologin am Universitätsspital Zürich. Roose ist spezialisiert auf seltene Stoffwechselerkrankungen. Sie betreut drei Patienten, die eine HFI haben.
Nicht für alle Betroffenen ist die Diagnose eine Erleichterung. Bei der achtjährigen Anna* wurde 2015 eine HFI diagnostiziert. Für ihre Pflegemutter ist der Alltag dadurch deutlich komplizierter geworden. «Es nimmt viel Unbeschwertheit», sagt sie. Wenn ihre leiblichen Kinder unterwegs ein Glacé wollen, muss sie schauen, ob es auch für Anna etwas Geeignetes gibt. Bei den Mahlzeiten kocht sie jeweils zwei verschiedene Menüs, damit auch Anna mitessen kann.

Seltene Krankheiten

Seltene Erkrankungen sind nur selten, wenn man sie einzeln betrachtet. So sind in der Schweiz insgesamt rund 500 000 Menschen betroffen. Weltweit sind etwa 7 000 seltene Erkrankungen bekannt und es werden jede Woche mehr. Dies schreibt das Bundesamt für Gesundheit. Das liegt an den verbesserten Methoden zur Diagnosestellung.

Auch Sarah Meier* glaubt, dass sie durch die späte Diagnose eine unbeschwertere Kindheit hatte. Sie sagt: «Ich habe nie etwas nicht dürfen, sondern ich wollte einfach nicht.» Trotzdem wäre eine frühere Diagnose besser gewesen, vor allem für ihre Eltern. Für sie sei es schwierig gewesen, nicht zu wissen was mit der Tochter los ist. Zwar waren sie froh, dass sie keine Süssigkeiten mag, doch sorgte sich die Mutter wegen der sehr einseitigen Ernährung um die Gesundheit der Tochter.

Zukünftig möchte sich Sarah Meier* mit anderen Betroffenen vernetzen, um praktische Tipps auszutauschen. Persönlich kennt sie niemanden mit HFI. Im Internet liest sie viel in Foren, in denen Betroffene berichten. Aber da diese fast alle in Amerika wohnen, sind viele Alltagstipps für sie nicht brauchbar. «Es wäre cool, jemanden zu kennen, der hier in die Migros geht.»

*Name geändert.
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