Das musst du wissen

  • Multiple Sklerose ist eine der häufigsten Autoimmunkrankheiten – vor allem unter Frauen.
  • Jetzt haben Forschende etwas Entscheidendes herausgefunden: Mitauslöser der Krankheit ist das Epstein-Barr-Virus.
  • Diese Erkenntnis gibt neue Hoffnung für einen entsprechenden Impfstoff.

Diese Nachricht erregt viel Aufsehen: Ein Forscherteam um die Harvard Medical School hat den bislang überzeugendsten Beweis dafür geliefert, dass das Epstein-Barr-Virus (EBV), das beim Menschen endemisch ist und das Pfeiffersche Drüsenfieber verursacht, Jahre später auch der Hauptfaktor für die Entstehung von Multipler Sklerose ist.

Warum das wichtig ist. Es wird schon lange vermutet, dass die EBV-Infektion eine Rolle beim Auftreten von Multipler Sklerose spielt. Die Arbeit von Alberto Ascherio und seinem Team, die am 13. Januar 2022 in Science veröffentlicht wurde, belegt nun überzeugend einen kausalen Zusammenhang unter einer grossen Gruppe von US-Soldaten. Die neuen Erkenntnisse sprechen für eine Strategie der Impfprävention.

Der Hintergrund. Multiple Sklerose ist die häufigste neurologische Autoimmunerkrankung. Sie betrifft einen von tausend Menschen in Regionen mit hoher Verbreitung, wie Europa und den USA.

Die Krankheit bricht in der Regel zwischen dem zwanzigsten und dreissigsten Lebensjahr aus und ist in Form von immer häufiger auftretenden Schüben für mehrere neurologische Beeinträchtigungen verantwortlich.

Der Neurologe Renaud du Pasquier vom Universitätsspital Lausanne, Experte für Multiple Sklerose, sagt dazu:

«Diese Krankheit schwächt das Sehvermögen und sorgt für Gleichgewichts-, Kraft- und Sensibilitätsstörungen. Dies in Schüben von mehreren Wochen oder Monaten. Frauen sind dreimal häufiger betroffen als Männer. Ein zentrales Symptom ist eine starke Müdigkeit. Zudem kann Multiple Sklerose auch zu Problemen beim Wasserlassen, zu Taubheitsgefühlen im Bereich des Afters und zu Impotenz führen. Es ist eine wirklich schlimme Krankheit.»

Wie aber sieht der Zusammenhang von Multipler Sklerose mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) genau aus, dem Erreger des Pfeifferschen Drüsenfiebers, der auch Lymphome und andere seltene Krebsarten verursacht? EBV ist beim Menschen endemisch: neunzig bis 95 Prozent der Erwachsenen sind infiziert, meist schon in der Kindheit, während Multiple Sklerose eine seltene Krankheit ist.

Renaud du Pasquier:

«Seit etwa zwanzig Jahren weiss man, dass die EBV-Infektion einer der Faktoren für die Entstehung von Multipler Sklerose ist. Doch es ist umstritten, welche kausale Rolle und Bedeutung diesem Faktor zukommt. Uns fehlt immer noch der physiologische Mechanismus, und diejenigen, die nicht daran glauben, fragen, warum denn so viele infizierte Menschen nie eine Sklerose entwickeln.»

Die Studie. Um diese Frage zu klären, arbeitete das Team von Alberto Ascherio, Epidemiologe an der Harvard Medical School, mit der US-Armee zusammen. Die Forschenden sahen sich die Akten von mehr als zehn Millionen junger Soldaten an, die zwischen 1993 und 2013 im aktiven Dienst waren und in dieser Funktion medizinisch betreut wurden.

Ihre Arbeit wurde nun in der Zeitschrift Science veröffentlicht, zusammen mit einem Leitartikel von zwei unabhängigen Experten. Das geschieht nur bei wichtigen Nachrichten. Der Inhalt:

  • In dieser Gruppe der über zehn Millionen Soldaten gab es 955 identifizierter Fälle von Multipler Sklerose. Von den jungen Männern verfügten die Forschenden über 801 Blutproben, die ursprünglich zur Kontrolle auf HIV entnommen worden waren.
  • Bei der Analyse der Proben stellten die Forscher fest, dass praktisch alle MS-Patienten in der Vergangenheit EBV-positiv waren. Nur bei einem von 801 Patienten war die Infektion nicht nachweisbar.

Durch den Vergleich der erkrankten Soldaten mit gesunden Probanden stellten die Epidemiologen Folgendes fest: Eine EBV-Infektion erhöht das Risiko, an Multipler Sklerose zu erkranken, um den Faktor 32  – eine sehr ungewöhnliche Grössenordnung. Patrice Lalive d’Epinay, Neurologe am Universitätsspital Genf, sagt dazu:

«Das ist enorm. Die bisher bekannten Risikofaktoren wie Fettleibigkeit, Rauchen und ein Vitamin-D-Mangel erhöhen das Risiko höchstens um etwa einen Faktor zwei. Und die wichtigste Genvariation, die als Risikofaktor identifiziert wurde (HLA-DR15), erhöht das Risiko um einen Faktor drei.»

Kausalität oder Korrelation? Die Autoren sind überzeugt, dass die EBV-Infektion eine kausale Rolle bei der Entstehung von Multipler Sklerose spielt. Sie stützen diese Interpretation, indem sie zeigen, dass ein früher Biomarker der Krankheit – das leichtkettige Neurofilament, ein Abbauprodukt der Axone von Neuronen – nach der Infektion tendenziell ansteigt.

Für den Fall des einzigen Patienten mit Multipler Sklerose ohne Anzeichen einer EBV-Infektion gibt es drei mögliche Erklärungen. So könnte er

  • sich erst nach der letzten Blutentnahme mit dem Virus infiziert haben. Das Zeitfenster betrug drei Monate,
  • sich mit dem Virus infiziert haben, ohne Antikörper zu entwickeln – selten, aber möglich – so dass die Infektion nicht nachweisbar war,
  • ein neurologisches Syndrom entwickelt haben, das der Multiplen Sklerose ähnelt, aber eine andere Ursache hat.

Renaud du Pasquier, der nicht an der Studie teilgenommen hat, ist überzeugt, dass ein wichtiger Schritt getan wurde:

«Dies ist die ausgereifteste Studie, die einen starken Zusammenhang zwischen EBV und Multipler Sklerose nachweisen kann und die Kausalität belegt. Sie lässt den Schluss zu, dass die EBV-Infektion eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Entstehung von Multipler Sklerose ist.»

Patrice Lalive d’Epinay interpretiert es ebenfalls so, aber etwas zurückhaltender:

«Das ist sehr wichtig und gut nachgewiesen. Es zeigt eindeutig, dass unter den derzeit bekannten umweltbedingten Risikofaktoren die EBV-Infektion das Hauptrisiko darstellt.»

Die Unbekannten. Warum kann man nicht ohne weiteres annehmen, dass das EBV-Virus, das bereits für das Pfeiffersche Drüsenfieber und verschiedene Krebsarten verantwortlich ist, nicht einfach der Erreger der Multiplen Sklerose ist? Dafür gibt es zwei Gründe:

  • Fast alle Erwachsenen sind mit EBV infiziert, aber weniger als einer von tausend Menschen erkrankt an Multipler Sklerose.

Renaud du Pasquier:

«Wir haben es hier nicht mit Influenza zu tun, die eine Grippe verursacht, oder mit Sars-CoV-2, das Covid-19 verursacht. Die überwiegende Mehrheit der Erwachsenen erkrankt nicht an Multipler Sklerose, obwohl sie das Virus hat. Was ist der Grund dafür? Es gibt sehr wahrscheinlich eine Kombination aus einer genetischen Prädisposition und einer EBV-Infektion, die eine vorherrschende Rolle zu spielen scheint.»

  • Der physiologische Mechanismus ist nicht bekannt.

Die allgemeine Idee ist, dass das EBV-Virus die B-Lymphozyten, also die weissen Blutkörperchen, infiziert und verändert. Dies führt eine immunologische Kaskade herbei. In der Folge greift der Körper seine eigenen Neuronen an und löst Multiple Sklerose aus. Die genauen Mechanismen müssen jedoch noch erforscht werden.

Renaud du Pasquier:

«Der Grossteil der MS-Forschung der letzten dreissig Jahre wurde an Mäusen durchgeführt. Unglücklicherweise infiziert EBV keine Mäuse, was die Sache erschwert, denn wir kommen nicht so leicht an das Gehirn eines MS-Patienten heran. Deshalb entwickeln wir in meinem Labor ein System, um diesen Effekt an kultivierten menschlichen Zellen zu testen.»

Im Gehirn oder nicht? Es stellt sich vor allem die Frage, ob das EBV-Virus im Gehirn vorhanden ist oder nicht. Bei Patienten mit fortgeschrittener Multipler Sklerose zeigen sich in der Hirnhaut Ansammlungen von B-Lymphozyten, so genannte lymphoide Neofollikel, die mit dem Virus infiziert sein könnten.

Patrice Lalive d’Epinay über den Zusammenhang:

«Interessant ist der nachgewiesene Tropismus von EBV für B-Lymphozyten – also die Fähigkeit eines Virus, eine bestimmte Sorte von Zellen oder bestimmtes Gewebe zu infizieren und sich dort zu vermehren. Denn man weiss seit etwa zehn Jahren, dass diese Zellen eine wichtige Rolle bei der Multiplen Sklerose spielen. Wenn wir die B-Lymphozyten bei unseren Patienten durch Behandlungen unterdrücken, stabilisiert das die Krankheit.»

Das Team um Francesca Aloisi in Rom entdeckte 2009 in diesen meningealen Neofollikeln Anzeichen einer EBV-Infektion, was tendenziell auf eine direkte Rolle des Virus hindeuten würde. Doch mehrere andere Forschungsteams haben es nicht geschafft, diese Arbeit zu wiederholen, so dass die Debatte bis heute anhält.

Wie sieht es mit der Behandlung aus? Die Auswirkungen der Arbeit von Ascherio und seinen Kollegen auf Patienten, die bereits an Multipler Sklerose erkrankt sind, bleiben unklar. Sie ebnen jedoch den Weg für eine Strategie zur Prävention von Multipler Sklerose durch zukünftige Impfungen.

Patrice Lalive d’Epinay:

«Wir interessieren uns seit etwa dreissig Jahren für einen Impfstoff gegen Epstein-Barr, aber heute, im Jahr 2022, haben wir keinen validierten Impfstoff. Es ist kompliziert, das richtige Ziel anzupeilen, weil das Virus in der latenten Phase nicht die gleichen Proteine exprimiert wie in der akuten Phase. Aber auf jeden Fall ist es eine zusätzliche Motivation, einen Impfstoff gegen EBV zu finden.»

Solche Impfstoffe werden im präklinischen Stadium weiter erforscht, trotz vieler Fehlschläge. Der am weitesten fortgeschrittene Kandidat wird von der US-Firma Moderna untersucht. Er basiert auf der mRNA-Technologie und ist Anfang Januar 2022 in die klinische Testphase getreten.

Renaud du Pasquier:

«Der Impfstoff wäre sowohl das ultimative Mittel zur Verhinderung von Multipler Sklerose als auch der ultimative Beweis für die Rolle von EBV. Aber es könnte etwas kompliziert sein, gegen eine so seltene Krankheit alle Menschen zu impfen. Eine Kompromiss könnte darin bestehen, nur Menschen mit einer genetischen Prädisposition für Multiple Sklerose zu impfen – zum Beispiel im Umfeld von MS-Patienten.»

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

Heidi.news

Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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