«Wir arbeiten, um Musse zu haben.» Eine Behauptung von Aristoteles. Was meinte er damit? Wohl, dass wir für unsere Freizeit arbeiten. Der altgriechische Begriff für Musse lautet Schola, was eine «Gelegenheit oder Möglichkeit, etwas zu tun» bedeutet. Aristoteles meinte damit eine Beschäftigung um ihrer selbst willen, die einfach im Moment der Aktivität guttut. Denn für ihn stand fest: Die Glückseligkeit des Menschen ist nur in Musse zu erreichen.

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Heute wird Musse gern mit Nichtstun gleichgesetzt. Das ist typisch für die heutige Gesellschaft, weil sie sich fast ausschliesslich nur noch über die Arbeit definiert. Begriffe wie Beziehungsarbeit, Arbeiten an sich selber, Trauerarbeit dokumentieren, wie diese Einstellung bereits ins Intimste hineingreift. Auch die Freizeit ist ja zunehmend von Leistungsdruck überschattet: Die Sporttätigkeit soll sich in einer guten Figur spiegeln, Wellness in mehr Leistungsfähigkeit ausdrücken und das «muss man gelesen», «muss man gesehen» haben dient dazu, sich sozial zu behaupten. Deshalb gilt heute die Musse, ein Unterfangen ohne Ziel, Druck und Zwang, schnell als dolce far niente, als faulenzen. Müssiggang sei aller Laster Anfang, hiess es früher. Im Gegenteil: Müssiggang ist aller Tugend Anfang.

Treibenlassen des Geistes

Denn der Mensch wird erst im Müssiggang zu einem Gefäss. Offen für neue Ideen, für bereinigte Ansichten oder eine neue Gewichtung der Vergangenheit. Die Musse entsteht – so zeigt jahrhundertealte Erfahrung – mit einem Treibenlassen des Geistes. Er macht sich aber heute erst auf einen Spaziergang, wenn Ruhe einkehrt, Druck abnimmt, die Routine verlassen wird. Denn die Reizüberflutung des Alltags hat aus dem Müssiggang eine Kunst gemacht, die für eine Mehrheit nicht mehr zugänglich ist.

Das ist exemplarisch an Bus- und Tramstationen zu sehen. Einfach warten, die Umgebung anschauen, Menschen beobachten geht heute nicht mehr. Die Wartezeit wird mit dem Handy überbrückt. Gerade dort, wo etwas Müssiggang möglich wäre, hält man die vermeintliche Leere nicht aus und stürzt sich in andere Welten. In Mails, WhatsApp, ins Web, einfach woandershin. Die herrschende Überzeugung «Das Glück ist anderswo, hier bin ich sowieso» verunmöglicht den Müssiggang. Untätig warten, beim Arzt, an der Supermarktkasse, in einer Warteschlange, hat ein Stigma.

Der Wiener Gehirnforscher Bernd Hufnagl sagt, die Bedeutung des Tagträumens sei heute unterschätzt und immer weniger Menschen würden noch über diese Fähigkeit verfügen. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk im vergangenen August erklärte er den Zusammenhang: «Wir haben begonnen, vor mehr als 17 Jahren, Menschen alleine in einen Raum zu setzen, um medizinisch zu überprüfen, ob das noch funktioniert, nämlich Abstand zu gewinnen, abzuschalten, zu regenerieren.» Die Testpersonen hätten während fünf Minuten aus dem Fenster schauen müssen und seien dabei an ein Elektrokardiogramm angeschlossen gewesen. «Wir versuchten festzustellen, ob ein bestimmter Nerv in unserem Körper, der sogenannte Nervus vagus oder der parasympathische Nervenstrang, aktiver wird. Wenn er es wird, ist es ein eindeutiges Zeichen dafür, dass wir abschalten, tagträumen, Musse haben, regenerieren, entspannen.» Nun das überraschende Ergebnis: Vor 17 Jahren konnten das lediglich 30 Prozent der Testpersonen. 2018 waren es nur noch fünf Prozent. Von den 60 000 über all die Jahre getesteten Personen zeigen heute 95 Prozent Stressreaktionen bei fünf Minuten Nichtstun.

Unerträgliche Ruhe

Langeweile heisst das grosse Gespenst. «Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung», analysierte bereits der französische Naturwissenschaftler und Philosoph Blaise Pascal. Der Begriff «l’ennui» taucht erstmals in den Briefen des französischen Schriftstellers Benjamin Constant auf. Eine Art innerer Leere, eine lähmende Gleichgültigkeit, eine Unlust zu leben. Constant entstammte einer wohlhabenden Familie und musste niemals wirklich arbeiten, was wohl dieses Grundgefühl begünstigte. Die Vertreter des französischen Existenzialismus belebten den Begriff «l’ennui» später wieder mit der Auffassung, Langeweile sei ein Grundzustand des menschlichen Lebens. Existenzialismus wurde in Paris zu einer Mode: Man kleidete sich nur noch schwarz, sass abends rauchend in Bars, trank Whiskey und vergnügte sich beim Langeweilen.

Aber was ist Langeweile überhaupt? Das lässt sich nicht einfach beantworten, weil die Vertreter unterschiedlichster psychologischer Schulen keine einheitliche Sicht haben. Der kanadische Psychologe John Eastwood von der York University in Toronto erforscht seit Jahren die Langeweile und prüfte mit Kollegen um die 100 Studien über Langeweile. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass sie drei Gründe haben könne: Es gibt nichts, was man tun könnte, man muss etwas tun, das man nicht möchte, oder es fehlt an einer Idee, was man tun könnte. Langeweile ist somit der unerfüllte Wunsch nach befriedigender Tätigkeit. Aber auch eine fehlgesteuerte Konzentration, dass die Aufmerksamkeit nicht auf das gerichtet werden kann, was man tun muss oder tun möchte. «Das ist mit negativen Gefühlen verbunden: Der Mensch fühlt sich antriebslos und lethargisch oder aber übererregt und rastlos. Und manchmal pendelt er zwischen diesen beiden Polen hin und her», schreibt John Eastwood.

Die Lust am langweiligen Alltag

Um der Langeweile zu entgehen, arbeite der Mensch oft über seine Bedürfnisse hinaus oder erfinde neue Projekte, um zu arbeiten, analysierte Friedrich Nietzsche. Nur: Heute langweilt sich eine wachsende Zahl von Menschen an der Arbeit – vor allem in der Bankenwelt, weil man etwas tut, das man nicht mehr tun möchte. Der Bonus wird deshalb zum Schmerzensgeld. Der Schweizer Philosoph Alain de Botton, der in London die Schule des Lebens betreibt, weckt in seinem Buch «Die Freuden der Langeweile» von 2017 die Lust am Unbedeutenden, am Langweiligen im Alltag. Denn Langeweile ist letztlich immer eine Frage der inneren Einstellung, wie man auf die Welt blickt. Deshalb schrieb Søren Kierkegaard: «An sich ist Müßiggang durchaus nicht eine Wurzel allen Übels, sondern im Gegenteil ein geradezu göttliches Leben, solange man sich nicht langweilt.»

Musse als Forschungsobjekt

2015 wurde an der Universität Freiburg von Elisabeth Cheauré, Professorin für Slawistik, unter dem Titel «Musse. Konzepte, Räume und Figuren» das Thema Musse erforscht. Seit 2017 ist sie zuständig für den Sonderforschungsbereich Musse der Universität Freiburg. Das Angebot wird wie folgt umschrieben: «Beschleunigung, Zeitverdichtung und Effizienz gehören zu den wichtigsten Leitfiguren unserer Zeit. Ihre Effekte verändern unsere Arbeitswelt, tragen zur globalen Umverteilung von wirtschaftlichen Ressourcen bei und lassen die Unruhe zum Signum der Moderne werden. (…) Gerade Erfahrungen der Zeitverdichtung führen zu einem grundsätzlicheren Nachdenken über Freiräume in Gesellschaft und Wissenschaft, über Potenziale für Kreativität und Innovation, die sie freisetzen können, und über diejenigen anthropologischen Grundfragen, die in dem durch Musse erfahrenen Spannungsverhältnis zwischen Produktivität und Freiheit sichtbar werden.»

Müssiggänger in der Literatur

Die französische Schriftstellerin Françoise Sagan, die über 40 Werke verfasst hat, hatte oft Anhänger des Müssiggangs als Protagonistin oder Protagonist. Sie liebte es, jeweils auf Robert Musil, Marcel Proust oder Charles Baudelaire zu verweisen, in deren Büchern Musse und Müssiggang wichtige Motive waren. In Musils Roman «Der Mann ohne Eigenschaften» verarbeitet der Müssiggänger seine Eindrücke der Grossstadt, was zeigt, dass es beim Müssiggang um geistigen Genuss, Inspiration und Ideensuche als Vergnügen geht. «Nicht Arbeit, sondern Musse ist das Ziel des Menschen – oder schöne Dinge herstellen oder schöne Dinge lesen oder einfach die Welt mit Bewunderung und Entzücken betrachten», schrieb Oscar Wilde.

Dieser Beitrag erschien erstmals im doppelpunkt.
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