Schon immer waren Naturfilme die Lieblinge unter den Dokumentarfilmen. Seit der Jahrtausendwende sind sie noch populärer geworden, manche werden zu regelrechten Stars. Der erste Meilenstein des aktuellen Booms dürfte «Earth» von Alastair Fothergill und Mark Linfield aus dem Jahr 2007 gewesen sein, einer der neusten ist die Netflix-Produktion «My Octopus Teacher». Die Geschichte der Annäherung zwischen Filmemacher Craig Foster und einem Kraken hat 2021 sogar einen Oscar abgeräumt. Formate wie diese warten nicht unbedingt mit viel neuer Information auf, sondern hauptsächlich mit spektakulären Bild und Tonaufnahmen und mitreissender Musik. «Solche Filme möchten in erster Linie ein sinnliches Erlebnis sein», sagt Margrit Tröhler, Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Zürich.

«Die unmöglichen Seh- und Hörpositionen tragen viel zur Magie neuer Dokumentarfilme bei.»Margrit Tröhler, Filmwissenschaftlerin

Diese Entwicklung sei vor allem den gewaltigen Fortschritten in der Bild- und Tontechnik geschuldet. Drohnen, Fotofallen oder hoch entwickelte Teleobjektive ermöglichen Einblicke in die Natur, die uns sonst verwehrt blieben. So aber fliegen wir mit Zugvögeln auf Augenhöhe, sehen Pflanzen erblühen und wieder verwittern, es entgeht uns kein Raupenhärchen. Hochsensible Mikrofone und kabellose Aufnahmegeräte schaffen eine bisher ungekannte Nähe: Jeden Schritt zu hören, den jemand auf einem halb gefrorenen Feld mache, das tiefe Schnaufen schlafender Tiere, das alles lade mehr zum Eintauchen ein als zu distanzierter Betrachtung, ergänzt Tröhler. «Solche unmöglichen Seh- und Hörpositionen tragen viel zur Magie neuer Dokumentarfilme bei.»

Grosses Kino für Forschung

«Die kürzeste Distanz zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ist das Kino» – unter diesem Motto findet das Global Science Film Festival in Bern und Zürich statt. Vom 19. bis am 28. November 2021 flimmern Dokus, Biopics und Kurzfilme über die Leinwände, inklusive Podien mit Regie und Forschenden.

Der einordnende Kommentar rückt da bisweilen in den Hintergrund. So stellt Philipp Blum, ebenfalls Filmwissenschaftler an der Universität Zürich, in einem Beitrag zum Thema fest, dass «Earth» zwar mehrheitlich aus Bildmaterial der BBC-Fernsehreihe «Planet Earth» bestehe, der Kinofilm aber manchmal kaum Auskunft zur gezeigten Spezies gebe. «My Octopus Teacher» ordnet das Faktenwissen sogar fast ganz einer narrativen Linie und der subjektiven Beobachtung unter. Er mute denn auch eher wie die klassische Liebesgeschichte in einem Spielfilm an und nicht wie eine Dokumentation, so Margrit Tröhler. Und selbst dort, wo Sachkenntnis vermittelt werde, spielten grosse Gefühle oft dennoch hinein. So werde in der Filmadaption des deutschen Sachbuch-Bestsellers «Das geheime Leben der Bäume» zwar vieles erklärt – «aber eben auch verklärt». Wenn von Bäumen die Rede ist, die ihren Nachwuchs stillen, habe die seit Langem gängige Vermenschlichung tierischer Protagonisten nun auch die Pflanzenwelt erreicht.

«Der Konflikt zwischen wissenschaftlicher Genauigkeit und narrativer Form ist keineswegs neu», sagt der Schweizer Filmwissenschaftler Vinzenz Hediger, der eine Professur an der Goethe-Universität Frankfurt innehat. «Forschung und Film beziehungsweise Fernsehen gingen in Naturdokumentationen schon in den Fünfzigerjahren eng zusammen.» So habe zum Beispiel National Geographic über Jahre hinweg die wissenschaftliche Arbeit der Schimpansenforscherin Jane Goodall finanziert, im Abtausch für die Bildrechte.

Verborgene Welten vor der Haustür

Ebenso sind die grossen Emotionen nicht nur Ergebnis hochauflösender Bilder und digitaler Tontechnik. «Schon im 19. Jahrhundert finden Philosophen und Denker im Staunen über die Natur die affektive Quelle, um den Naturschutz zu begründen», sagt Hediger. Dieser ist schon lange zentrales Thema von Naturdokus. Dass dieser Modus der Naturverehrung wieder an Kurswert gewinnt, führt Hediger vor allem auf die zunehmende Präsenz des Themas Klimaschutz zurück.

Was sich seit den Fünfzigerjahren ganz sicher geändert hat: Die Exotik des afrikanischen Kontinents allein reicht nicht mehr aus, um die Menschen vor den Bildschirm zu locken, es braucht dazu auch eine Geschichte. Gleichzeitig fördert die neue Technik verborgene Welten zutage, die sich gleich vor der Haustüre befinden.

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