Das musst du wissen

  • Coronaskeptiker vergleichen sich mit Anne Frank, Sophie Scholl oder schlicht mit den verfolgten Juden der Nazi-Zeit.
  • Das ist historisch nicht korrekt und verhöhnt die Opfer.
  • Vor Hitlers Machtergreifung 1933 herrschte eine grosse Meinungsvielfalt – die Stimmung war aber angeheizt.
Den Text vorlesen lassen:

Herr Wirsching, Coronaskeptiker, Querdenker und Maskenverweigerer ziehen immer wieder Parallelen zur Nazi-Zeit. Ein Mädchen aus Karlsruhe verglich sich mit Anne Frank, weil sie ihren Geburtstag im Geheimen feiern musste. Eine junge Frau sagte auf einer Bühne vor Corona-Demonstranten in Hannover, sie fühle sich wie Sophie Scholl, die Untergrundkämpferin, die 1943 durch die Nazis ermordet wurde. Und auch in der Schweiz, jüngst auch an einer Demonstration in Wohlen, tragen Demonstranten Judensterne mit der Aufschrift «Maske macht frei.» Was sagen Sie als Historiker zu solchen Vergleichen?
Die Vergleiche der Querdenker mit Sophie Scholl und Anne Frank sind skandalös: Das ist Geschichtsklitterung für politische Zwecke. Die NS-Vergangenheit wird einfach als Steinbruch verwendet, aus dem man sich genau die Brocken holt, die einem in die eigene Erzählung passen. Wir kennen dieses Vorgehen aus diktatorischen Regimen, das Geschichtsbild so herumzudrehen, dass es in die eigene Ideologie passt. Wer sich – auf einer Bühne stehend – mit Sophie Scholl vergleicht, die ermordet wurde, verhöhnt die Betroffenen. Solche Vergleiche sind aber typisch für eine politische Richtung, die die NS-Vergangenheit Deutschlands versucht umzuschreiben und sie versatzstückartig zu einem anderen Sinn zu verdrehen.

Es gibt Behauptungen, wir befänden uns in den neuen Dreissigern. Querdenker warnen davor, man könne seine Meinung nicht mehr sagen und wir stünden vor einer neuen Diktatur. Gibt es denn Parallelen zu den 30er-Jahren?
Schon der Begriff der «neuen Dreissiger» zeigt, wie schief die Vergleiche sind. Bei den 1930-er Jahren muss man klar zwischen der Zeit vor und nach 1933 unterscheiden: Der 30. Januar 1933, also die Machtübernahme der Nazis, war ein Systembruch. Nachher war nichts mehr wie vorher.

Andreas Wirsching


Andreas Wirsching ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin und Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München. Wirschings Forschungsschwerpunkte sind unter anderen die Geschichte der Weimarer Republik, die Geschichte des Kommunismus, des Faschismus und Nationalsozialismus in der Zeit von 1918 bis 1945, die deutsche und europäische Geschichte seit den 1970er Jahren sowie die Geschichte und Theorie der Moderne.

Wie war der Zustand der Meinungsfreiheit vor der «Machtergreifung»?
Bis dahin galt die Weimarer Reichsverfassung. Und diese gewährte die Meinungsfreiheit. Der Meinungspluralismus war sehr hoch. In der Weimarer Republik konnte alles gesagt werden, es gab aber viele «Echokammern», wie man heute sagen würde, kleine Blättchen, Zirkel, von völkisch bis linksextrem. Die waren auch recht resistent gegenüber anderem Erfahrungswissen. In dem Sinn gibt es vergleichbare Tendenzen zwischen der Weimarer Kultur und heute.

Inwiefern das?
Seit den 90er-Jahren hat bei uns eine Transformation der Meinungsvielfalt stattgefunden. Bis in die Achtziger gab es ein halbes Dutzend Printmedien und zwei Fernsehkanäle, die die öffentliche Meinung oder die veröffentlichte Meinung verkörperten. Alles andere war Stammtisch. Die öffentlich-rechtlichen, qualitativ hochstehenden Medien waren sehr dominant. Die neuen Medien und das Internet haben das geändert. Jeder kann sich heute selber ungefiltert dokumentieren. Auch das ähnelt der Medienlandschaft während der Weimarer Republik, wo es die Hegemonie einiger Medien nicht gab.

Also konnte man in der Weimarer Republik vielleicht sogar noch freier sagen, was man wollte?
Die Meinungsfreiheit war in Weimarer Republik zwar gewährleistet, es herrschte aber eine Art geistiger Bürgerkrieg. Es standen sich zwei grosse Lager gegenüber. Auf der einen Seite das nationalistische Lager mit Schnittmengen zum völkisch-rassistisch-nationalsozialistischen Lager, auf der anderen Seite das liberal-sozialdemokratische Lager mit dem republikanischen Teil des politischen Katholizismus. Die beiden Lager prallten massiv aufeinander. Es war deshalb nicht ungefährlich, seine Meinung überall zu sagen. Es gab eine Neigung zu Gewalttätigkeit, die man auch heute feststellen kann, zum Beispiel im Mordfall Lübcke. In der Weimarer Republik war politische Gewalt allgegenwärtig. Ausserdem konnte einem die politische Meinung nach der Machtübernahme zum Verhängnis werden.
Ein Beispiel ist Kurt Schumacher, der vor der Machtergreifung der Nazis im Reichstag gesagt hat, die Nazis holten den inneren Schweinehund hervor. Nach der Machtübernahme wurde dafür gesorgt, dass Schumacher im KZ landete.

Es herrschte in den Jahren vor Hitlers Machtergreifung also eine Art geistiger Bürgerkrieg. Auch während der Corona-Krise wurde der Ton gereizter. Droht ein neuer geistiger Bürgerkrieg?
Die politischen Meinungskämpfe werden derzeit zugespitzter. Die Auffassungen über das, was tragbar ist, divergieren stark. Natürlich ist es heute in westlichen Gesellschaften möglich, seine Meinung frei zu artikulieren. Eine andere Frage ist, welche Wirkung das erzielt. Die Öffentlichkeit ist immer umkämpft. Es gibt immer eine hegemoniale Meinung, die zu Konformismus neigt, und die Minderheitenmeinung wird nicht so oft gehört wie die andere. Das ist in einem pluralistischen System angelegt.

Was passierte in Sachen Meinungsfreiheit nach der Machtübernahme im Januar 1933?
Dann war sehr schnell nichts mehr wie vorher. Die Presse wurde sofort gleichgeschaltet, im Sommer 1933 war das schon vollzogen. Hinzu kam der Terror der Nazis. Hitler zog ein regelrechtes Bürgerkriegsprogramm durch. Es gab wilde Konzentrationslager und er zog die SA als Hilfspolizei bei. Das wirkte einschüchternd. Das alles war aber nur möglich, weil es eine Hinnahme von Gewalt gab bis in tief bürgerliche Lager, wenn die Gewalt dem «richtigen» Gegner galt. Das war so effizient möglich, weil die Nazis auf einen nicht unerheblichen gesellschaftlichen Konsens bauen konnten. Hitler ist innenpolitisch aufgetreten mit einem Programm, in dem er die «Vernichtung des Marxismus» versprach. Die Gegner waren auch die Sozialdemokraten und Freien Gewerkschaften, nicht nur Kommunisten. Diese Unterstützung hat die NSDAP effizient ausgenutzt. Sie hatte bürgerliche, konservative und aristokratische Partner. Das sollten die heutigen Konservativen aus der Geschichte lernen. Sie sollten sich mit Rechtsextremen nicht einlassen, denn wenn sie nicht mehr gebraucht werden, werden sie von der extremen Rechten vorgeführt. 1933 freilich ergab dieser Rückhalt das Fundament, auf dem der Mythos der legalen Machtergreifung entstand.

Warum Mythos?
Die legale Machtergreifung propagierten die Nazis mit der Begründung, sie hätten geltende Gesetze nicht verletzt. Das Narrativ lautet, die Mehrheit im Parlament hätte im März 33 für das Ermächtigungsgesetz gestimmt. Hitler sei so legal ermächtigt worden, eine Diktatur zu machen.
Aber: Die Weimarer Verfassung sah vor, dass die Abgeordneten frei und geschützt sind. Am Tag der Abstimmung am 23. März 33 war der Reichstag aber umstellt von SA-Trupps. Die Abgeordneten wussten: Das Gesetz abzulehnen, konnte gefährlich sein. Ausserdem: Abgeordnete geniessen Immunität. Das wurde einfach weggewischt. Rund hundert kommunistische Abgeordnete waren nicht da, sie waren im KZ, auf der Flucht oder im Untergrund. Um die gesetzlich vorgeschriebene Anzahl der anwesenden Parlamentarier trotzdem zu erreichen, wurden sie aber vom Reichstagpräsidenten als anwesend gezählt. Das war ein Taschenspielertrick, der mit Legalität nichts zu tun hatte.

Die Nazis gingen also durch Gewalt sicher, zu gewinnen.
Genau. Hitler selber hat dann später auch gegen das Ermächtigungsgesetz verstossen, denn darin waren die Rechte zum Beispiel des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers festgeschrieben. Nach dem Tod von Reichspräsident Hindenburg übernahm Hitler aber einfach auch dieses Amt und nannte sich von ab da «Führer und Reichskanzler».

Machtergreifung der NSDAP


1919 wurde in München die rechtsextremistische Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) gegründet. Ab 1921 wurde sie von Adolf Hitler geführt. 1923 scheiterte in München ein Putschversuch (Hitler-Ludendorff-Putsch), die NSDAP wurde verboten und Hitler sowie weitere Drahtzieher inhaftiert. Die Haftstrafen wurden aber aus politischen Gründen bereits neun Monate nach Inhaftierung wieder erlassen. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 stieg die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland an und damit auch die Beliebtheit für radikale Parteien wie die NSDAP.

Bei den Reichstagswahlen vom Juli 1932 bekam die NSDAP 37,4 Prozent der Stimmen, womit sie zur wählerstärksten Partei des Deutschen Reiches aufstieg. Bei den Reichstagswahlen vom 6. November 1932 bekam die NSDAP zwar nur noch 33,1 Prozent der Wählerstimmen sie bleibt aber stärkste Partei. Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannte Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. Hitler war Reichskanzler, doch die Demokratie existierte offiziell noch. Im März 1933 standen Neuwahlen an, die NSDAP hatte das Ziel bis dahin alle politischen Gegner auszuschalten, um bei den Wahlen die absolute Mehrheit zu erlangen.

Am 28. Februar 1933, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, trat die «Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat» in Kraft, womit Grundrechte wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit eingeschränkt wurden. Nach den Neuwahlen, bei denen die Mehrheit mit Hilfe der Deutschnationalen Volkspartei erlangt wurde, erklärte man die Parlamentssitze der Kommunistischen Partei als ungültig. Damit sicherte sich die NSDAP letztlich im Reichstag die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit, die sie brauchte, um am 23. März 1933 das Ermächtigungsgesetz «Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich» zu verabschieden. Dadurch konnte die Regierung Gesetze beliebig neu erlassen. Infolgedessen wurden Gesetze verabschiedet, die folgendes bewirkten: Aufhebung der Landesparlamente, Verbot beziehungsweise Auflösung aller anderen Parteien, Aufhebung aller Institutionen, die nicht mit der Nationalsozialistischen Regierung in Verbindung standen.

Nachdem Reichspräsident Hindenburg am 2. August 1934 starb, wurde Hitlers Alleinherrschaft vollendet. Hitler ernannte sich zum «Führer und Reichskanzler» und hatte die alleinige Macht über Legislative, Judikative und Exekutive, und war zugleich der Oberbefehlshaber über die Reichswehr.

Warum putschte sich die NSDAP nicht einfach an die Macht sondern legte Wert auf diesen Mythos der legalen Machtübernahme?
Der Mythos der legalen Machtübernahme war wichtig für das weitere Funktionieren des Staatsapparates. Den konnten die Nazis auf diese Weise einfach übernehmen.

Querdenker und Corona-Skeptiker werfen dem Staat heute vor, die Macht an sich zu reissen.
In Deutschland wurde dies vor allem beim dritten Infektionsschutzgesetz behauptet, das den Gesundheitsminister ermächtigt, bestimmte Massnahmen zu erlassen. AfD und Querdenker-Gruppen sagten, dass sei eine Diktaturermächtigung. Sie betrieben also auch hier eine im Kern unerträgliche Geschichtsklitterung. Wir haben demokratische Sicherungen, von Machtergreifung kann heute keine Rede sein, weder funktional noch intentional.

Gibt es bezüglich der Situation heute denn einen passenden Vergleich überhaupt?
Eine andere Sache ist der Vergleich mit den ersten Ermächtigungsgesetzen von 1923. Damals herrschte Hyperinflation in Deutschland, jede Woche vervielfachten sich die Preise, die Zeit lief der Regierung davon. In dieser Situation räumte der Reichstag der Regierung ausserordentliche Vollmachten ein. Heute sagt die kritische Forschung: Das führte 1923 zu einer Entparlamentarisierung der Politik und das könnte der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik geschadet haben. Das war ein problematischer Präzedenzfall. Denn als die Nazis ihr Gesetz auf den Weg brachten, gab es den Begriff des Ermächtigungsgesetzes schon.

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Ist die Lage heute also ähnlich wie 1923?
Die Lage ist nicht die gleiche. Es ist aber legitim zu fragen, ob eine solche Entparlamentarisierung nicht auch heute problematische Folgen haben könnte. Eine Krise ist die Stunde der Exekutive, das ist einfach so. Das Regieren auf dem Verordnungswege sollte aber nicht erfolgen, wo nicht notwendig, und schon gar nicht lange dauern.

Nazi-Vergleiche sind ja grundsätzlich nichts Neues. Hat die Corona-Krise trotzdem eine neue Art der Vergleiche hervorgebracht?
Nazi-Vergleiche sind meist schief und häufig politisch oder sogar ideologisch motiviert. Neu ist aber der Versuch der AfD und der ihr nahestehenden Kreise bis hin zu den Querdenkern, die Geschichte umzuschreiben mit Versatzstücken der NS-Geschichte. Aktuell wird von Rechtsaussen die heutige Demokratie mit dem NS-Regime gleichgesetzt, das ist unhaltbar und empörend.

Auffallend ist aber, dass es keineswegs nur Rechtsextreme sind, die sich angesprochen fühlen.
Ja, man kann hier von einem Extremismus der Mitte sprechen, einem Begriff des Soziologen Seymour Martin Lipset. Dieser bezog das auf die NSDAP, die viele Mittelschichtwähler hatte. Das waren nicht nur Arbeitslose. Das ist ein Phänomen, das man heute auch beobachten kann. Wähler der AfD sind auch Akademiker. Es sind nicht «nur» Globalisierungsverlierer oder jetzt jene, die im Lockdown ihren Job verlieren.

Woran liegt das?
Das ist die Gretchenfrage. Es liegt teilweise wohl daran, dass Angebote wegbrechen, die eine kulturelle Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft vermitteln. Wir sind jetzt seit rund 30 Jahren in einer Phase der Transformation. Der Wettbewerbsgedanke des Neoliberalismus ist in alle Poren der Gesellschaft eingedrungen. Die tradierten Systeme sind erodiert, nicht nur Kirchen, Gewerkschaften und Vereine. Auch zum Beispiel Einrichtungen wie die Post oder Bahn. Dort arbeiteten früher kleine Beamte, die damit eine gewisse Würde, eine Funktion und damit ein soziales Zugehörigkeitsgefühl erhielten. Durch die Privatisierung ist das alles weg. Das betrifft auch die Mittelschichten. Alles ist hochkompetitiv. Ein Leben lang den gleichen Job ausüben, geht nicht, so wurde ein um das andere Mal gesagt; man muss sich stets weiterbilden. Sicherheiten sind zerfallen. Der Extremismus der Mitte ist auch eine Reaktion darauf.

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