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Am 7. Februar sagte der Sozialwissenschaftler Marko Kovic in einem Gastbeitrag auf higgs voraus, dass sich die Bewegung der Corona-Skeptischen neuen Themen zuwenden würde. Ein erstes hatten sie bereits gefunden.
Seine Prognose hat sich bewahrheitet. Die Bewegung Mass-Voll war eine treibende Kraft im Kampf gegen das Mediengesetz, welches unter anderem eine finanzielle Förderung kleiner Online-Medien gebracht hätte. Ihr Argument lautete, dass der Staat die Medien über Medienförderung kontrollieren und die Bevölkerung so manipulieren wolle. Ein typisches Verschwörungsargument. Denn, wollte der Staat die Medien und die Bevölkerung manipulieren, gäbe es weit effizientere Methoden als ein Fördergesetz. Russland macht es gerade vor.
Nach der Abstimmung dauerte es gerade zwei Wochen, bis einer der treibenden Skeptiker sein neues Thema gefunden hatte. Am 23. Februar widmete sich Stricker TV dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Zwar gibt er unumwunden zu, dass er von der Sache keine Ahnung hat. Zitat: «Ich bin jetzt am Einlesen in die Russland-Scheisse. Ich weiss schon einiges, aber ich bin noch nicht genügend sattelfest, um zu sagen, dass alles, was ich sage unbedingt stimmen muss.» Das ist die typische rhetorische Form, die vielen Rednern als Einleitung dient, um die Verantwortung für den Unsinn, den sie danach absondern von sich zu weisen.
So gibt im Folgenden dann auch Stricker über fünfzig lange Minuten hinweg verbale Diarrhoe von sich. Er meint angesichts des russischen Truppenaufmarsches an der ukrainischen Grenze «die Schlagzeilen machen auf Panik, und wollen uns glauben machen, dass die Welt vor dem Untergang stehe» und er wolle «Wut umkanalisieren», «von dem Ort, der die Wut nicht verdient hat [Russland und Putin], auf jenen Ort, der die Wut verdient hat [die Medien]». Übrigens verlinke ich das Video absichtlich nicht, um ihm nicht noch mehr Traffic zu geben.
Dumm nur für Stricker, dass am Tag nach seinen unsäglichen Aussagen die russische Armee die Ukraine überfiel.
Neues Thema – alte Behauptungen
Stricker wirft auch den Medien vor, plötzlich nur noch über die Ukraine zu berichten und nimmt das als Beweis, dass die Pandemie eine mediale Inszenierung war. Dass zu diesem Zeitpunkt in den meisten Ländern praktisch alle Corona-Massnahmen aufgehoben waren, die akute Phase der Pandemie also beendet war, interessiert Stricker, der als Zeremonienmeister tätig war und sich jetzt «Journalist» nennt, nicht. Auch hat er offenbar übersehen, dass selbst die Kanäle der Skeptischen, wie beispielsweise Corona Transition – dessen Kernthema Corona war – seit Ausbruch des offenen Kriegs nicht mehr über Corona berichten, ist dem «Journalist» ohne entsprechende Ausbildung, offenbar entgangen.
Warum tun sie das? Eigentlich hat die massnahmenkritische Bewegung ihre Daseinsberechtigung verloren. Jetzt, wo ihre Ziele zwar erreicht, ihre Prophezeiungen aber nicht eingetreten sind: Die Covid-Impfungen haben nicht Millionen von Menschen umgebracht; das Bargeld wurde nicht abgeschafft; die Demokratie wurde nicht mit einer totalitären Diktatur ausgetauscht; Bill Gates hat uns doch nicht gechipt; und die Corona-Massnahmen wurden nicht für alle Ewigkeit verlängert. Warum gibt sich die Gegnerschaft der Corona-Massnahmen nicht zufrieden?
Dabeisein schafft Heimat und Identität
Das habe ich die Soziologin Katja Rost von der Uni Zürich gefragt.
«Die Leute, die in den vergangenen beiden Jahren sehr unzufrieden waren mit den Corona-Massnahmen, vielleicht Verschwörungsglauben und Impfskepsis entwickelt haben, sind überzeugt, sie würden für etwas Gutes kämpfen.»Katja Rost
Und wer Gutes tut, der darf damit ja nicht aufhören. Die Opposition gegen Corona-Massnahmen hat diesen Menschen aber auch eine Identität gestiftet, die sie jetzt nicht einfach so wieder ablegen wollen.
«In den sozialen Netzwerken und auf Corona-Demos erhalten sie Zuspruch für ihre extreme Meinung und können sich weiter radikalisieren, zudem vernetzen sie sich und erhalten in einer Zeit der Unsicherheit Halt – ihre Herkunft oder der Status sind egal, sie können sich einen neuen sozialen Status innerhalb des Netzwerkes aufbauen.»Katja Rost
Deshalb wechseln sie zum nächsten Thema – hier können sie ihre Identität aufrechterhalten. Also wenden sie sich voller Verständnis Putin zu.
Und selbst als der Krieg schon wütet, können sie davon nicht ablassen. Am 1. März veröffentlicht Daniel Stricker eine Sendung mit dem Titel «Kriegslüge nach der Viruslüge».
Über eineinhalb Millionen Menschen sind unterdessen geflüchtet. Russische Soldaten erschiessen Frauen und Kinder auf der Flucht. Und mehrere Städte mitsamt ihrer Zivilbevölkerung werden mit andauerndem Bombardement ausgelöscht. Aber eben, das Ganze ist ja nur «inszeniert».
Die Skeptischen behaupteten während der Pandemie, die Schweizer Medien seien zensiert. Auch im Ukraine-Krieg reklamieren sie Fehlinformation. Derweil verbreiten sie ein Video, in dem eine unbekannte Frau behauptet, die Menschen in der Ostukraine würden sich auf die «Befreiung» freuen. Nicht, dass das Video deswegen unbedingt ein Fake sein muss. Aber es ist dieselbe Art Video, wie wenn eine unidentifizierte Pflegerin behauptet, in den Spitälern würden Sterbezahlen manipuliert und Impftote verheimlicht: Es ist eine Einzelposition, die die Meinungsverhältnisse nicht repräsentiert.
So sehen Zensur und Diktatur aus
An alle, die ihr nach dem Kampf gegen die Corona-Massnahmen auf der Suche nach einer neuen Identität seid. Für einen Staat gibt es bessere Methoden, die Medien und die Bevölkerung zu manipulieren als durch ein Medienfördergesetz: Er kann die unabhängigen Medien ganz einfach verbieten, oder Medienschaffenden, die das Wort «Krieg» verwenden, jahrelangen Knast androhen. Putin hat es soeben gemacht. BBC, CNN, ARD, ZDF, SRF und viele andere könne nun nicht mehr aus Russland berichten. So sieht staatliche Zensur aus.
Liebe Massnahmenopposition, lieber Roger Köppel und Alex Baur, die ihr zwei Jahre lang behauptet habt, die Schweiz sei eine Diktatur und jetzt Verständnis für Putin fordert. Ihr fordert Verständnis für einen Machthaber, der ihm nicht genehme Personen verhaftet, enteignet, deportiert und tötet.
Nachdem die Skeptischen in zwei Jahren unzählige vom Staat bewilligte Demonstrationen haben abhalten können, hat Putin in zwei Wochen mehrere Tausend Menschen verhaften lassen, die gegen den russischen Angriffskrieg demonstrieren. So sieht Diktatur aus.
Ihr fordert Verständnis für diesen skrupellosen Menschenfeind. Mir kommt das Kotzen.