Das musst du wissen

  • Die Physik, wie wir sie kennen, enthält noch einige zentrale, ungelöste Fragen.
  • Deshalb suchen Hunderte von Forschenden weltweit nach Erklärungen – die zum Beispiel eine fünfte Kraft bieten könnte.
  • Eine zentrale Rolle hierfür spielt das Zentrum für Kernforschung Cern in Genf.
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Stell dir vor, du suchst jeden Tag nach einem Phantom. Stell dir vor, du fragst dich jeden Tag, ob es das Phantom, das du suchst, überhaupt gibt. Dann findest du wieder eine verdächtige Spur. Du suchst weiter, jagdfiebrig: Willkommen in der Welt des Nicola Serra, Professor für Teilchenphysik an der Universität Zürich – und einer der Hunderten von Physikerinnen und Physikern, die nach einer neuen elementaren Kraft suchen. Und dies mittels des mächtigen Teilchenbeschleunigers am europäischen Kernforschungszentrum Cern in Genf.

«Ich könnte jede Sekunde meines Lebens damit verbringen, dieses Phantom der Physik zu jagen», sagt Nicola Serra. Nicola Serra sagt auch: «Wenn sich herausstellt, dass es das Phantom nicht gibt, sind die letzten sieben Jahre meines Lebens zugespitzt formuliert nichts mehr wert. Das ist der Preis, den wir bezahlen.»

Ist das Standardmodell der Teilchenphysik unvollständig?

Das Problem: Das Phantom ist nicht nur unbekannt, sondern auch noch unvorstellbar klein. Der Grund, weshalb überhaupt nach ihm gesucht wird, ist, dass die letzten Teilchen im Puzzle der Physik fehlen: Die Physik, wie wir sie heute kennen, enthält einige zentrale, ungelöste Fragen. Sie ist sozusagen löchrig.

Das Standardmodell

Im Standardmodell der Teilchenphysik gibt es zwei Kategorien von Teilchen: Einerseits die Quarks und andererseits die Leptonen, zu denen die Elektronen gehören. Von diesen beiden Teilchen gibt es je drei verschieden schwere Familien. Diese Teilchen interagieren mit Hilfe von noch kleineren Teilchen, welche auch als «Kräfte» bezeichnet werden. Es gibt vier bekannte Kräfte. Erstens, die Gravitationskraft. Zweitens die sogenannte «schwache Kraft», die durch W- und Z-Bosonen, also eben kleinste Teilchen, übertragen wird. Drittens gibt es die starke Kraft, welche zum Beispiel auch die Quarks und Elektronen in den Atomen zusammenhält. Diese wird durch sogenannte Gluonen übertragen. Das Standardmodell wird komplettiert durch das 2012 entdeckte Higgs-Teilchen. Dieses Teilchen gibt den Quarks und Elektronen, sowie den W- und Z-Bosonen erst ihre Masse.

Denn: Teiltheorien der Physik sind nicht miteinander vereinbar. Theorien zur Quantenmechanik und Beobachtungen in der Astrophysik zum Beispiel beissen sich. «Das Standardmodell der Teilchenphysik scheitert noch darin, unsere Existenz zu erklären», sagt Nicola Serra. Wir sitzen in seinem Büro an der Universität Irchel in Zürich, er trägt einen Woll-Pulli und manchmal zittert seine Stimme vor Nervenkitzel, den die Physik für ihn bereithält. Er spricht schnell, die englischen Worte rollen mit italienischem Akzent über seine Lippen. «Beim Urknall muss gleich viel Materie wie Antimaterie entstanden sein, aber das Standardmodell erklärt nicht, wo die Antimaterie hin verschwunden ist», sagt er. Auch für das Phänomen der dunklen Materie, für deren Existenz es viele experimentelle Hinweise gibt, gibt es in der Teilchenphysik keine Erklärung. Kurz: «Unsere Physik muss unvollständig sein, es muss etwas Grösseres geben», sagt Serra.

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Deshalb rüttelt er seit sieben Jahren an dem Standardmodell der Teilchenphysik, zusammen mit Tausenden anderen. «Wir suchen einen Spalt, durch den sich dieses Grössere, diese neue Kraft, zeigen muss», erklärt er. Wäre er Detektiv, könnte man sagen: Er versucht, das Phantom so lange zu provozieren, bis es die Nerven verliert – und wieder zuschlägt.

Das LHCb-Experiment am Cern

Nicola Serras Provokationen bestehen aus zerfallenden Quarks. Das sind die kleinsten Teilchen, aus denen jede Materie besteht. Also: Atome sind aus Protonen, Neutronen und Elektronen zusammengesetzt. Die Protonen und Neutronen ihrerseits bestehen aus jeweils drei Quarks – den Elementarteilchen. Materie, die wir normalerweise antreffen, besteht aus gängigen, leichten Quarks. Es gibt aber auch mittelschwere und sehr schwere Quarks. Diese sind aber zu schwer für diese Welt – sie zerfallen unvorstellbar schnell. Dabei werden sie zu leichteren Quarks sowie zum Beispiel zu entweder einem Elektronen-Paar oder einem Myonen-Paar – das sind die schwereren Cousins der Elektronen.

Und nun kommt der Clou: Laut der Theorie sollte kein Elementarteilchen beim Zerfall bevorzugt werden. Es sollten also gleich viele Myonen-Paare wie Elektronen-Paare entstehen. Und diese Voraussage fordert Nicola Serra mit seinem Team im Rahmen des LHCb-Experiments am Cern heraus. Denn, sollten nicht gleich viele Paare entstehen, funkt etwas Unbekanntes hinein. Das Phantom ist also nicht sichtbar, aber messbar.

LHCb, das aussieht wie eine grosse FabrikhalleCern

Das LHCb-Experiment ist eines der vier grossen Experimente am Large Hadron Collider am Cern.

Um dem Phantom auf die Schliche zu kommen, haben Serra und sein Team einen Detektor entwickelt und über sieben Jahre Daten gesammelt. Viele Daten: «Wenn das Experiment läuft, kollidieren alle 25 Nanosekunden – eine Nanosekunde ist eine Milliardstel-Sekunde – Protonen mit Protonen und daraus entstehen Hunderte von Teilchen», erklärt Serra. «Und das über Jahre.» Diesen riesigen Datensatz suchten die Physiker dann nach jenen Teilchen ab, die sie interessieren – sie heissen B-Mesonen und bestehen aus zwei sehr schweren Quarks. Den Zerfall dieser Teilchen nahmen sie genauer unter die Lupe – und fanden erneut mögliche Spuren des Phantoms. Beziehungsweise: Sie fanden als Zerfallsprodukt mehr Elektronen- als Myonenpaare. «Ich glaube, wir haben eine reale Chance, dass wir hier einen Spalt gefunden haben, auch wenn es noch Unsicherheiten gibt», sagt Nicola Serra. Unsicherheiten?

 

Die wissenschaftliche Methode wird rigoros angewandt

Wo Menschen Phantome zu sehen glauben, da ist Misstrauen angebracht. Denn Menschen sind fehlbar. Sie irren sich. Sie sehen Dinge, wo sie sie sehen wollen und verpassen, was ihnen nicht in den Kram passt. Menschen sind Träumer und Wahnsinnige. Weil sie das irgendwann erkannt haben, haben sie ein System aufgebaut, um sich selbst auf die Finger zu klopfen: Die wissenschaftliche Methode. «Ohne die wissenschaftliche Methode würden wir immer noch über Adam und Eva diskutieren», sagt Nicola Serra. «Wir würden von unserer Leidenschaft weggetragen werden und nirgends ankommen. Die wissenschaftliche Methode ermöglicht uns, rigoros streng zu sein».

Das führt dazu, dass Serra für kleinste Schritte seiner Forschung Jahre braucht. Denn es gibt wohl nur wenige Bereiche der Wissenschaften, die so streng arbeiten wie die Teilchenphysik. Allein um den Detektor für sein Experiment zu bauen, brauchte Serra mit seiner Gruppe eine Dekade. Von 2012 bis 2018 dann liefen die Messungen. Die ersten Messungen sind nun über acht Jahre her – und erst jetzt publiziert die Gruppe die Endergebnisse der Datenanalyse.

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Studie: Test of lepton universalityKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Messmethoden und die Analytik beruhen auf rigorosen wissenschaftlichen Kriterien und auf riesigen Datensätzen. Sie sind deshalb als sehr zuverlässig zu werten. Allerdings könnten die festgestellten Abweichungen vom Standardmodell auch zufällige statistische Abweichungen sein. Es braucht also weitere Forschung, um die Resultate zu bestätigen.Mehr Infos zu dieser Studie...

Das liegt daran, dass Serra Teil der LHCb-Kollaboration ist: Ein Zusammenschluss von gut 1000 Forscherinnen und Forschern, die am Cern alle dem Phantom hinterherjagen und dabei strengste Qualitätskriterien ansetzen. So wird – wie bei Experimenten der Teilchenphysik üblich – wenn möglich blind gearbeitet. Das heisst: Die gesamte Analyse der Daten passiert mit Platzhaltern, nicht mit den real gemessenen Daten. So verhindern die Forschenden, dass sie von den Daten beeinflusst werden – und wünschenswerte Resultate bewusst oder unbewusst herbeizaubern.

Ihre Analyse wird auf verschiedenen Stufen bis auf die Knochen geprüft: Zuerst in der eigenen Forschungsgruppe, dann von einem zugewiesenen Experten am Cern und schliesslich von allen 1000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Kollaboration. Erst, wenn all diese Hürden überwunden sind, darf die Forschungsgruppe «die Box öffnen», das heisst: Die realen Daten in die Analyse einfügen. Erst dann erfährt die Gruppe, ob sie eine Spur der fünften Kraft gefunden hat – oder nicht. «So laufen Präzisionsmessungen, sie müssen absolut wasserdicht sein», sagt Serra.

LHCb Detektor mit WissenschaftlerCern

Öffnung des LHCb-Detektors zur Installation eines Upgrades.

Anders als Stephen Hawking

Die Experimente, die Provokationen, das Nachspüren von Spuren: Das ist ein Weg, wie Forschende hoffen eine neue Kraft zu entdecken. Es gibt aber noch einen anderen: Jenen des «Masterminds». Jenen der Theorie. Jenen, den Einstein einst einschlug. Oder Stephen Hawking. «Solche Genies haben einen Top-Down-Approach», sagt Serra. «Sie fangen mit sehr grossen theoretischen Fragen an, sagen alles vorher – und irgendwann findet man experimentell den Beweis», erklärt er. So war es zum Beispiel auch beim Higgs-Boson, von dem das Wissensmagazin higgs seinen Namen hat.

Das Higgs-Teilchen

Das Higgs-Boson oder Higgs-Teilchen ist ein nach dem britischen Physiker Peter Higgs benanntes Elementarteilchen. Alle Elementarteilchen ausser dem Higgs-Boson selbst erhalten ihre Masse erst durch die Wechselwirkung mit dem Higgs-Feld. Das Higgs-Feld ist allgegenwärtig und vergleichbar mit einem Schneefeld: Wer es durchläuft, an dem bleibt Schnee hängen und dadurch wird er schwerer. Was hängen bleibt, sind die Higgs-Teilchen. Experimentell wurde das Higgs-Boson erst im Juli 2012 im Large Hadron Collider (LHC) am Cern nachgewiesen. François Englert und Peter Higgs haben für die theoretische Entwicklung des Higgs-Mechanismus 2013 den Nobelpreis für Physik bekommen.

«In manchen Fällen führt diese Vorgehensweise zu unglaublichem Erfolg und Ruhm, in anderen aber endet sie im totalen Abseits», gibt Serra zu bedenken. «Die Wahrscheinlichkeit, dass man über diesen Weg den Beweis liefert, ist sehr klein.» Das Gegenteil dieser Vorgehensweise ist der «Bottom-Up-Approach». Das heisst eben: Mittels Experimenten zuerst einen Spalt zu finden, durch den ein neuer Effekt – wie die fünfte Kraft – sichtbar wird, und dann gezielt nach ihr zu suchen. Die Forschenden stehen eigentlich vor der Frage: Sucht man eine Nadel im Heuhaufen am besten, indem man ihn durchwühlt – oder indem man berechnet, wo genau die Nadel hingefallen sein könnte?

Bahnt sich eine Physik-Revolution an?

Nicola Serra hält den Bottom-Up-Approach für geeigneter – obwohl er ursprünglich von der theoretischen Seite kommt. Seinen Master erlangte er mit einer Forschungsarbeit über die Stringtheorie, einem Modell aus der Quantenfeld-Theorie. Dass er überhaupt Physiker wurde, ist nicht selbstverständlich. Aufgewachsen ist Serra in einem Bergdorf auf Sardinien, wo der Bus nur einmal am Tag fährt. So weit sein Dorf aber auch von den wissenschaftlichen Zentren dieser Welt entfernt war, so eindringlich stellte er sich bereits als Kind fundamentale, physikalische Fragen. «Mein Vater war Apotheker und eines Tages erklärte er mir den Aufbau eines Atoms», erinnert sich Serra. «Als ich hörte, dass ein Atom unter anderem aus zwei positiv geladenen Protonen besteht, fragte ich mich, warum sich diese Protonen denn nicht abstossen.» Weder sein Vater noch seine Lehrerin konnten ihm eine befriedigende Antwort liefern.

Die Faszination für solche physikalischen Fragen liess ihn nicht mehr los. Als er sein Studium in Elektromaschinenbau begann, fesselte ihn zunächst die Kernkraft, dann die Quantentheorie – und so landete er da, wo er heute forscht: Als Professor an der Universität Zürich, der hofft, einst die Existenz einer fünften Kraft vollständig bewiesen zu haben. «Wenn es stimmt, dass es eine fünfte Kraft gibt, müssen die Physikbücher neu geschrieben werden», sagt Serra. Seine Stimme bebt.

Noch ist es aber nicht so weit. Immer noch könnten die Abweichungen von der Theorie, welche Serra und sein Team gemessen haben, Zufall sein, oder besser ausgedrückt: eine statistische Abweichung. Serra zwingt sich zu Skepsis, so aufregend das Resultat auch ist. Skepsis ist seine Berufskrankheit: «Ohne Skepsis gibt es keinen wissenschaftlichen Fortschritt», sagt er. Er erzählt: «Als ich jung war, boxte ich im Ring. Ich lernte, mich wie ein Boxer zu bewegen, also anders, als ich instinktiv reagieren würde, wenn mir jemand ins Gesicht schlagen würde. Normalerweise würde ich die Augen schliessen. Ich lernte aber, mich zu ducken, zu schützen. Irgendwann ging das Gelernte über in Instinkt». Heute ist Serra kein Boxer mehr, sondern ein Forscher auf den Spuren eines Phantoms. Wenn er glaubt, das Phantom ertappt zu haben, schaltet er seine Skepsis ein. Er sagt: «Dasselbe wie als Boxer ist mir als Wissenschaftler passiert: Meine angeborene Leidenschaft wurde zu Skepsis.»

Das Large Hadron Collider beauty-Experiment (LHCb)

Das LHCb-Experiment ist eines der vier grossen Experimente am Large Hadron Collider (LHC) am Cern in Genf. Entwickelt wurde es, um Zerfälle von Elementarteilchen zu untersuchen, die ein Beauty-Quark enthalten. Dies ist das Quark mit der höchsten Masse, das gebundene Zustände bildet. Die daraus resultierenden Präzisionsmessungen von Materie-Antimaterie-Unterschieden und seltenen Zerfällen von Teilchen, die ein Beauty-Quark enthalten, ermöglichen empfindliche Tests des Standardmodells der Teilchenphysik. Forschungsgruppen der UZH und der ETH Lausanne sind seit 1999 Mitglieder der LHCb-Kollaboration. Sie haben wichtige Beiträge zum Design und zum Bau des LHCb-Detektors geleistet und sind an dessen Erweiterungen beteiligt. Diese Erweiterungen des Detektors werden der Schlüssel sein, um die benötigten Daten zu sammeln und herauszufinden, ob die beobachteten Anomalien in den Beauty-Quark-Zerfällen tatsächlich real sind. Seit dem Beginn der Datenaufnahme im Jahr 2009 spielt die UZH-Gruppe von Nicola Serra eine führende Rolle bei den Messungen der Zerfälle von Teilchen, die Beauty-Quarks enthalten. Die Gruppe arbeitet eng mit zwei weiteren UZH-Teams zusammen, die an der theoretischen Beschreibung dieser Phänomene arbeiten.
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