Zürich, Spätmittelalter

Alles, was sich in Küche und Latrine an Abfällen ansammelt, gelangt in die schmalen Gässchen auf der Rückseite der Häuserzeilen. Diese so genannten «Ehgräben» verlaufen senkrecht zur Limmat. Der flüssige Abfall landet im Fluss, die festen Rückstände werden mit Stroh gebunden und in der Landwirtschaft wiederverwertet. Die Ehgräben sind Jahrhunderte lang die Sammelstellen für Abfälle aller Art.

Oberhallau, 1858

Gemälde eines dickeren Mannes im Anzug mit Fliege. Er hat eine Halbglatze und einen Schnauz.zVg

Jakob Ochsner.

Fünfzig Kilometer nördlich von Zürich wird im schaffhausischen Oberhallau am 10. April ein gewisser Jakob Ochsner geboren. Noch ahnt niemand, dass der Sohn des örtlichen Wagners eines Tages das Abfallsystem revolutionieren wird.

Zürich, 1867

Mit den Hygienebedingungen in Zürich steht es nicht zum Besten. Das Entsorgungssystem entspricht nicht dem einer fortschrittlichen Stadt. Angst vor Cholera und Typhus geht um. Ein geschlossenes Kanalisationssystem und ein Abfuhrwesen müssen her. Diese so genannte «Kloakenreform» macht den Anfang zu einem modernen Abfallmanagement.

Zürich, 1870er-Jahre

Der noch junge Ochsner tritt beruflich in die Fussstapfen seines Vaters und lässt sich zum Wagner ausbilden.

Eine historische Aufnahme. Zu sehen ist eine längere Kutsche, die von zwei Pferden gezogen wird.zVg

«Patent Ochsner»: Am Anfang noch aus Holz und erst mit zwei Pferdestärken (um 1900).

USA, um 1880

Jakob Ochsner wandert in die USA aus und bleibt mehrere Jahre dort. Auf der anderen Seite des Ozeans gibt es die viel grösseren Städte als in der Heimat. Wagner Ochsner sieht mit eigenen Augen, wie die Abfallberge einer Grossstadt organisiert und effizient entsorgt werden. Das inspiriert ihn.

Zürich, 1887

Jakob Ochsner kehrt aus den USA zurück. Es zieht ihn aber nicht ins ländliche Oberhallau, sondern er verlegt die Werkstatt seines Vaters nach Zürich, in die grösste Stadt der Schweiz.

Zürich, 1893

Zürich geht einen Schritt weiter in Sachen Abfallentsorgung: Die Kehrichtabfuhr wird durchorganisiert. Aber von Ordnung und Sauberkeit kann noch keine Rede sein. Jeder Haushalt stellt seinen eigenen Kübel vor die Haustür. Schmutz und Gestank machen sich noch immer breit in den Strassen und Gassen von Zürich.

Zürich, 1904

Zürich nimmt als erste Stadt der Schweiz und als vierte Stadt auf dem europäischen Kontinent eine Kehrichtverbrennungsanlage in Betrieb.

Zürich, 1908

Jakob Ochsner hat ein System der Abfallentsorgung entwickelt, dass es im wahrsten Sinne des Wortes in sich hat. Denn die Transportkette vom Haushalt bis zur Verbrennungsanlage ist fortan geschlossen. Und so funktioniert das sogenannte «System Ochsner»: Die Stadtzürcher stellen ihren Kehricht im quadratischen Eimer mit Deckel an die Strasse. Müllmänner stecken den geschlossenen Eimer in das passgenaue Loch des Sammelkastens. Erst dann öffnen sie den Klappdeckel. So leert sich der Ochsner-Kübel staub- und geruchsfrei.

Zürich, 1926

Der Zürcher Gemeinderat erklärt das «System Ochsner» als obligatorisch. Der mittlerweile runde und feuerverzinkte Ochsner-Kübel wird zur Pflicht. Weitere Städte führen in den kommenden Jahren das System Ochsner ein. Als erste Städte in der Schweiz ziehen Rorschach und St. Gallen nach. Im selben Jahr nimmt auch die Kläranlage Werdhölzli ihren Betrieb auf. Und schliesslich stirbt Jakob Ochsner in diesem Jahr.

Hydraulik hebt die vollen Kübel (undatiert).zVg

Hydraulik hebt die vollen Kübel (undatiert).

Zürich, 1930

Der Ochsner-Kübel wird patentiert als «Behälter mit Klappdeckel und umlegbarem Tragbügel». Fortan prangt auf jedem Eimer der Schriftzug «Patent Ochsner». Dieser Begriff wird Geschichte machen – nicht nur in der Abfallentsorgung.

Basel, 1931

Die Basler machen es den Zürchern nach. Auch sie führen das Ochsner-Obligatorium ein. Ladenpreis des Kübels: neun Franken und fünf Rappen. Wer sich den Kübel nicht leisten kann, erhält eine finanzielle Unterstützung zwischen drei und fünf Franken.

Zürich, 1939

Grossraumkehrichtwagen schlängeln sich erstmals durch die Strassen und Gassen von Zürich.

Bern, Tscharnergut, 1970er-Jahre

Wenn einer mit «dicker Hose» angetrabt kommt, sich aufführt als wäre er der Erfinder des Viervierteltaktes, oder wenn jemand etwas als Neuigkeit, als den letzten Schrei propagiert, was aber im Grunde bereits Schnee von gestern ist, pflegt Vater Huber jeweils ein lakonisches «Patent Ochsner!» auszuteilen. Was nichts anderes bedeutet als: «Junge, das ist Bullshit. Wirf’s weg!» Das beeindruckt Hubers Sohn Büne – und sollte für sein späteres Leben prägend sein.

Zürich, 1979

Der Abfallsack aus Plastik tritt seinen Siegeszug an. Das Rumpeln und Klappern der Ochsner-Kübel in den Gassen und Strassen Zürichs verstummt. Im selben Jahr wird der Geschäftssitz der Firma Ochsner nach Urdorf verlegt.

Bern, 1990

Büne Huber ist noch immer beeindruckt von den treffenden Worten seines Vaters – auch noch als er eine Mundart-Band gründet. In einem Schaumschlägerbusiness wie der Musikbranche, denkt sich Büne Huber, wo die «dicken Hosen» gleich im Rudel auftreten, macht sich der Bandname Patent Ochsner eigentlich ganz gut. Nur hat das ausserhalb der Familie Huber nie jemand kapiert. Wie auch?

Bern-Bümpliz, undatiert

«D W. Nuss vo Bümpliz geyt dür d Strass.» Ob diese Strasse mit Ochsner-Kübeln gesäumt ist, ist nicht bekannt.

Recycling in Zürich heute

Autobatterien, Topfpflanzen oder Röntgenbilder: Heute lässt sich in Zürich fast alles fachgerecht entsorgen. Aus dem brennbaren Abfall produzieren die beiden Zürcher Kehrichtheizkraftwerke jährlich rund 174 000 Megawattstunden Strom. Damit sind sie die grössten Stromproduzenten auf Stadtzürcher Boden. Umweltbewusste ohne eigenes Auto können ihr Sperrgut im Cargo-Tram und den Elektroschrott im E-Tram entsorgen. Glas, Metall und Öl finden jederzeit bei den rund 160 Wertstoff-Sammelstellen den Weg zurück in den Recyclingkreislauf. Und wer es ja nicht verpassen will, Altpapier- und Kartonbündel am richtigen Tag vor die eigene Haustür zu stellen, lässt sich von einer kostenlosen Push-Mitteilung 24 Stunden vor der Sammlung daran erinnern.

Dieses Porträt stammt aus dem Buch «Zürcher Pioniergeist» (2014). Es porträtiert 60 Zürcherinnen und Zürcher, die mit Ideen und Initiative Neues wagten und so Innovationen schufen. Das Buch kann hier bestellt werden.
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