Die Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten und Behandlungsformen muss in klinischen Studien mit Patienten geprüft werden. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass neue Therapien auf den Markt kommen dürfen. Doch der angesehene Medizinprofessor John Ioannidis von der Stanford-Universität in den USA prangert in einem Essay im Fachmagazin «PLOS Medicine» an, dass ein grosser Teil der klinischen Forschung keinen Nutzen für die Patienten hat. Ioannidis, der immer wieder provokativ auf Missstände in der medizinischen Forschung aufmerksam macht, nennt als einen der Hauptgründe, dass Wissenschaftler oft nur für ihre eigenen Zwecke forschen und die Wünsche und Prioritäten der Patienten ausser Acht lassen.

Weiter kritisiert Ioannidis an klinischen Studien, dass viele Wissenschaftler einfach drauflosforschen, ohne abzuklären, ob sie damit überhaupt neues Wissen generieren. Meistens werde im Voraus keine Literaturrecherche gemacht, schreibt er. Dadurch werde viel Geld für unnötige Doppelspurigkeiten ausgegeben. Zudem bemängelt er, dass oft zu wenige Patienten untersucht würden, um eine statistisch signifikante Aussage zu machen. Was in der Schweiz getan wird, um solche Missstände zu verbessern, erklärt Annette Magnin, Geschäftsführerin der Swiss Clinical Trial Organisation (siehe Box unten).

pd

Annette Magnin setzt sich für die Qualität der klinischen Forschung in der Schweiz ein.

Die meisten klinischen Studien zielen offenbar an den Patienten vorbei. Ist das auch in der Schweiz so?

Ich denke, dass sich die Schweiz nicht anders verhält als andere Länder. Bei einer klinischen Studie steht das wissenschaftliche Interesse des Forschers im Vordergrund. Und einen direkten Austausch mit der untersuchten Patientengruppe gibt es im Vorfeld der Studie in der Regel nicht.

Müsste man die Patienten nicht schon bei der Planung einer neuen Studie einbeziehen?

Das wäre ideal. Es gibt zurzeit ein europaweites Projekt namens European Patients’ Academy (Eupati). Mit ihm sollen Patienten geschult werden, damit sie auf Augenhöhe mit den Ärzten über deren Forschung sprechen können und ihre Erfahrungen zu einer geplanten Studie beisteuern. Ziel ist, dass Patienten zusätzliche Aspekte einbringen, die aus ihrer Sicht relevant sind. Eine neue Behandlung soll also beispielsweise nicht nur zeigen, ob sie eventuell die Heilungschancen erhöht, sondern auch, ob sie Schmerzen vermindert. Genauso können Patienten die Machbarkeit einer Studie in der Praxis mitbeurteilen.

Wie weit ist das Projekt in der Schweiz?

Es steht noch ganz am Anfang. Es gilt Fragen der Finanzierung und Organisation zu klären. Geplant ist, eine Rechtsform für Eupati zu finden. Dazu wird demnächst ein Verein gegründet, in dem die Patienten eine führende Rolle übernehmen. Der Verein soll die Ziele von Eupati in der Schweiz umsetzen.

Ist es realistisch, Patienten diese Verantwortung aufzubürden?

Es gibt viele, zum Teil schwer kranke Patienten, denen es wichtig ist, als Vertreter und Experten ihrer Krankheit mitreden und mitentscheiden zu können. Zudem sind sie ja meist nicht allein, sondern in Patientenorganisationen zusammengeschlossen.

Wie kommt es überhaupt erst so weit, dass schlechte Studien durchgeführt werden können?

Es hängt davon ab, wie man «schlecht» definiert. In der Schweiz gibt es verschiedene Kontrollinstanzen, unter anderem die kantonalen Ethikkommissionen. Diese prüfen jede geplante Studie. Wenn es Mängel gibt, etwa bei der Statistik oder der Machbarkeit, verlangen sie vom Forscher eine Überarbeitung. Aber auch für eine Ethikkommission ist es kaum möglich, den Stellenwert jeder einzelnen Studie im medizinischen Kontext abschliessend zu beurteilen. Dazu fehlen die Zeit und das nötige Personal.

Bereiten sich Forscher zu schlecht auf ihre geplanten Studien vor?

Tatsächlich werden Studien durchgeführt, die mangels Statistikwissen der Forscher oder zu geringer Finanzierung zu klein sind, um die gestellte Frage überhaupt beantworten zu können. Oft versagen Projekte aber auch bereits bei der Überprüfung der Machbarkeit. Zum Beispiel sind Forscher häufig zu optimistisch beim Abschätzen, wie viele Patienten es gibt, die sich überhaupt für eine bestimmte Studie eignen. Diese Abklärungen sollten vor Studienbeginn sorgfältiger und professioneller gemacht werden.

Wie kommen Studienleiter zu mehr Professionalität?

Sie können sich in der Schweiz an die sogenannten Clinical Trial Units in den Spitälern wenden. Das sind interdisziplinäre Kompetenzzentren für klinische Forschung, welche die Forschenden bei der Planung und Umsetzung von Projekten unterstützen. Dort gibt es Statistiker und andere Fachleute, welche beispielsweise die Qualitätskontrolle und Administration übernehmen können. Auf diese Weise werden die Studienleiter entlastet, und sie können sich auf die Forschung und die Patienten konzentrieren. Die SCTO koordiniert die Clinical Trial Units. So wird sichergestellt, dass schweizweit nach denselben Standards gearbeitet wird.

Kritisiert wird auch, dass die meisten Studien von der Pharmaindustrie finanziert sind. Und diese verfolgt primär kommerzielle Ziele. Warum wendet die reiche Schweiz nicht mehr öffentliche Gelder für Studien auf?

Der Schweizerische Nationalfonds schreibt derzeit 10 Millionen Franken aus, mit denen vier unabhängige klinische Studien finanziert werden sollen. Das ist ein sehr guter Anfang. Darüber hinaus finanziert der Bund europäische Projekte mit. Mehr öffentliche Mittel wären wünschenswert, diese wird es aber wegen der Sparziele des Bundes im Moment kaum geben.

Bund will Qualität fördern

Die Swiss Clinical Trial Organisation (SCTO) ist ein Verein, der auf Initiative des Schweizerischen Nationalfonds und der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften gegründet wurde. Er setzt sich für die patientenorientierte klinische Forschung ein. Zu seinen Mitgliedern zählen unter anderem alle Schweizer Universitätsspitäler.

Die Erstversion dieses Beitrags erschien am 7. Oktober 2016.
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