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Bei hochemotionalen Themen wie 5G, Klimawandel oder der Corona-Pandemie trachten verschiedene Akteure danach, den Wissenschaftlern das Zepter der Deutungshoheit zu entreissen. Und ihnen so das interessierte Publikum abluchsen. Nicht selten gelingt dies, weil diese nichtwissenschaftlichen Akteure einfache Antworten auf schwierige Fragen geben. Nur: Einfache Antworten gibt es nicht mehr. Die Forschungsfragen von heute können nicht mehr von einer Fachrichtung allein, geschweige denn von einem einzelnen Menschen beantwortet werden. Dazu braucht es interdisziplinäre Teams, viele verschiedene Kompetenzen und Methoden – und Zeit. Das kann zum Problem werden. Denn die Kluft zwischen interessierten Bürgerinnen und Bürgern und hochspezialisierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wird immer grösser. Hier greifen Wissenschaftsverdreher ein.

Dabei stechen drei Gruppen besonders hervor. Erstens politische Akteure, die aktiv auf Polarisierung und Radikalisierung hinarbeiten.
Zweitens sind es die Betroffenen. Bei 5G sind es Menschen, die sich selbst als strahlensensibel empfinden. Sie finden in Medizin und Wissenschaft keine Erklärungen für ihre Leiden – und machen sich selber auf die Suche. So werden sie zu «Experten» in eigener Sache. Hier mag ein Querbezug zur Opferjustiz angebracht sein: Der Hass und die Trauer, die zum Beispiel Angehörige von Mordopfern empfinden, macht blind und unfähig für eine unvoreingenommene Suche nach den Tätern. Das Leid lässt keine Zeit zum Denken, zum Prüfen und Beweisen – entsprechend sind Vorverurteilungen häufig. Ähnlich verhält es sich mit Patienten, die eigenhändig nach den Ursachen für ihre Leiden suchen: Oft ist ihr Verlangen nach Antworten zu gross, als dass sie die Faktenlage neutral beurteilten können – selbst wenn das Fachwissen an sich vorhanden wäre. Die Voreingenommenheit, welche diese Menschen oft Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorwerfen, ist bei Betroffenen selbst um ein Vielfaches höher.

Drittens sind da die Profiteure. Jene, die Geld verdienen mit der Thematik. Sie verkaufen strahlensichere Unterwäsche gegen 5G, machen Gewinn mit Werbung auf ihren Youtube-Kanälen oder schreiben Bücher, die scheinbar alles erklären, lange bevor die Wissenschaft zu einem klaren Bild gefunden hat. Ein weiteres Motiv: Selbstinszenierung, Ansehen bei den Leuten, die ähnlich denken. Anzutreffen bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich polemisch gegen den wissenschaftlichen Konsens stellen. Diese Profiteure werfen der Forschergemeinschaft häufig vor, mit der Industrie unter einer Decke zu stecken – und ernten dann die Früchte des Zweifels, den sie zuvor gesät haben.
Es stimmt: Auch seriöse Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind nicht immun gegen Applaus, frei von Interessenbindungen – und auch hier gibt es schwarze Schafe. Aber gerade weil die Forschung möglichst neutral sein soll, ist sie den Universitäten angegliedert. Hier werden Forschende nicht nach der Anzahl Paper oder positiver Resultate entlöhnt, auch wenn das Faktoren sind, welche ihre Karriere beeinflussen können.

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Profiteure, Betroffene und politische Akteure taugen nicht als Faktenfinder. Geht es um wissenschaftliche Fragen, ist das Aufgabe der Wissenschaft. Wie aber lässt sich die Kluft zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft schliessen? Erstens brauchen Forschende ein dickes Fell, wenn sie sich der öffentlichen Debatte stellen. Zweitens müssen sie lernen, sich verständlich auszudrücken. Drittens haben sich die etablierten Medien an der Nase zu nehmen. Denn auch sie sind mit einem Vertrauensverlust konfrontiert. Zu schnell dreht sich das Rad der Nachrichten, zu wenig genau wird informiert, zu pauschal geurteilt. Auf diesem Rad wird zu oft russisch Roulette gespielt. Und zu wenig vermittelt, was seriöse journalistische Arbeit bedeutet. Nämlich Recherche bis in die Tiefen der Papers, kritisches Hinterfragen von PR-Information und vor allem: Unvoreingenommene Neugier auf die Wirklichkeit. Eine Freundin sagte jüngst zu mir: «Du musst ja nur die Fakten aufschreiben.» Und versetzte mir damit einen Schlag. Mir wurde klar: Auch der informierten Leserschaft ist oft nicht bewusst, dass Fakten nicht auf der Strasse herumliegen. Die faktische Wirklichkeit muss mühsam aus Einzelaussagen, Daten und Kontexten herausgeschält werden. Fakten sind nicht einfach da. Man muss sie ermitteln.

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