Das musst du wissen

  • Wissenschaftler beschäftigen sich seit Jahrzehnten damit, wie man Atommüll-Endlager kennzeichnen soll.
  • Es geht um sehr grosse Zeiträume: Die Warnungen müssen auch in über hunderttausend Jahren noch verstanden werden.
  • Das ist schwierig, denn die heutigen Sprachen werden in 10 000 Jahren verschwunden sein, schätzen Linguisten.
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Atommüll bleibt zum Teil über Millionen Jahre radioaktiv. Es wird zwar noch Jahre dauern, bis das erste europäische Endlager für Atommüll gefüllt und verschlossen wird. Wie man dieses anschreiben soll, daran forschen Wissenschaftler aber schon seit Jahrzehnten. Das Forschungsfeld der Atomsemiotik beschäftigt sich damit, wie wir unsere Nachfahren vor der Gefahr warnen, die von unserem radioaktiven Müll ausgeht. Semiotik befasst sich mit Zeichensystemen wie Schrift, Gestik und Symbolen. An der Frage der Endlagerkennzeichnung tüfteln jedoch Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen, Archäologinnen, Biologinnen und Mathematikerinnen beispielsweise.

Es geht um enorme Zeiträume. «In etwa 200 000 Jahren hat unser Müll noch immer die Radioaktivität von natürlich vorkommendem Uran», erklärt Patrick Studer, Mediensprecher der Nagra, das Kompetenzzentrum der Schweiz für die Entsorgung radioaktiver Abfälle in geologischen Tiefenlagern. Wie wir unsere Nachfahren informieren wollen, dazu gibt es unzählige ausgefallene Ideen.

Mit Blick auf die Vergangenheit kann man zweierlei sagen: Bisher waren wir nicht besonders gut darin herauszufinden, was unsere Vorfahren uns sagen wollten. So wissen wir noch immer nicht genau, wozu Stonehenge gebaut und genutzt wurde. Und: Die meisten Warnungen halfen nichts. Warnungen auf Pharaonengräbern hielten Archäologen und Grabräuber beispielsweise nicht davon ab, die Gräber zu öffnen.

Die jetzt gesprochenen Sprachen werden in 10 000 Jahren verschwunden sein, schätzen Linguisten. Schrift gibt es erst seit 3000 Jahren – und sie kann sich über die Zeit wandeln. Selbst Symbole werden in Zukunft womöglich ganz anders verstanden; so könnte ein Totenkopf auch «sehr alter Mensch» bedeuten. Oder unsere Nachfahren bestaunen ihn als Kunst.

Die Ideen, wie man diese Probleme umschiffen könnte, tönen skurril: Bei einem wissenschaftlichen Brainstorming in den 1980er-Jahren schlugen zwei Forschende vor, Katzen zu züchten, die bei Anwesenheit von Radioaktivität die Farbe wechseln. Eine US-Kommission erdachte in den 1990er-Jahren ein Monument aus riesigen Granitblöcken oder -stacheln. Ein Semiotiker empfahl die Gründung einer Atompriesterschaft, um das Wissen vom strahlenden Müll weiterzugeben.

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Das hört sich abwegig an, könnte aber durchaus eine Lösung sein, denn: Mythen können Inhalte über eine sehr lange Zeit überliefern, wie eine Literaturstudie des Bundesamts für Energie (BFE) 2010 ergab. «Alle grossen Mythen von Völkern dieser Erde haben eine gewaltige Aufnahme in der Zeit erfahren, seien es alte babylonische Mythen, wie jene des Gilgamesch und des Atrahasis, die biblische Schöpfungsgeschichte, mittelalterliche Mythen wie die Grals-Sage bis hin zu den modernen Mythen der Nationalstaaten, die – wie die Beispiele Wilhelm Tells oder Jean d’Arc zeigen – Heldengeschichten mit klassischer Kraft und Ausstrahlung darstellen», schreiben die Autoren. In dieselbe Richtung geht die Idee eines jährlichen Atommüll-Festes, um die Botschaft kulturell zu verankern.

Die Visionen sind über die Jahre konkreter und bescheidener geworden. «Es gibt inzwischen eher eine Kombination verschiedener Lösungsansätze, kein allgemeingültiges Rezept mehr», sagt Patrick Studer von der Nagra. Zeitlich gesehen fokussierten sich die Experten gegenwärtig auf die nächsten Jahrhunderte. Für die Schweiz angedacht sei derzeit zum Beispiel die Langzeitbeobachtung des Endlagers, Besucherzentren, lokale und internationale Archive, Einträge ins Grundbuchamt, Spuren in der Landschaft und Zeitkapseln.

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