Benedikt Meyer
Benedikt Meyer ist Historiker und Autor. Mit «Im Flug» hat er die erste wissenschaftliche Geschichte der Schweizer Luftfahrt geschrieben, mit «Nach Ohio» seinen ersten Roman veröffentlicht. Bei higgs erzählt er in der «Zeitreise» jeden Sonntag Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catherine Reponds tragischem Ende und von Henri Dunant bis zu Iris von Roten.
Anne-Marguerite Petit war überglücklich. Endlich war sie in Genf! Endlich den Häschern des Sonnenkönigs entkommen! Endlich auf protestantischem Boden!
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Ursache für Anne-Marguerites Flucht aus Südfrankreich war das Edikt von Fontainebleau. 1685 hatte Louis XIV die Ausübung des Protestantismus de facto verboten. Schon zuvor waren Frankreichs Protestanten immer heftiger drangsaliert worden. Man verunglimpfte sie als «Hugenotten», einem Wort, das herauskam, wenn französische Zungen «Eidgenossen» zu sagen versuchten. Eine Anspielung darauf, dass die Protestanten von der Schweiz, genauer: von Jean Calvin, inspiriert waren.

Mit dem Edikt von Fontainebleau verbot der Sonnenkönig Louis XIV. de facto die Ausübung der protestantischen Religion.
Die Protestanten flohen in die Niederlande, nach Deutschland, England, Südafrika oder in die Schweiz. Die Flucht war gefährlich – besonders für eine allein reisende Frau. Anne-Marguerite schnitt sich deshalb die Haare, verkleidete sich als Knabe und vertraute ihr Schicksal einem Schlepper an. Dieser nahm ihr fast den gesamten Besitz ab, sogar ihr Pferd verkaufte er unterwegs. Besonders brenzlig wurde es, als ein Dorfrichter in Anne-Marguerite einen hugenottischen Jüngling zu erkennen glaubte und erst von ihr abliess, als sie ihm versicherte: «Ich bin genauso sicher katholisch, wie ich ein Knabe bin». Ob das im Detail stimmt oder einfach gut erzählt ist, ist offen. Anne-Marguerite wurde später eine Art Klatschreporterin und wusste Texte unterhaltsam zu gestalten.

Porträt von Anne-Marguerite Petit.
Sicher ist, dass Anne-Marguerite Petit gut aufgenommen wurde, als sie 1686 in der Schweiz ankam. Die protestantischen Eliten sahen in den Flüchtenden Glaubensbrüder, die sie gerne unterstützten. Ausserdem war Mademoiselle Petit früh dran. Im Folgejahr schwoll der Strom deutlich an und am 30. August 1687 erreichten an einem einzigen Tag 8000 Personen Genf – das gerade mal 16 000 Einwohner zählte.
Insgesamt durchquerten wohl etwa 60 000 Flüchtende die Schweiz – wobei sie die katholischen Gebiete sorgsam umgingen. Ungefährlich war ihre Reise trotzdem nicht. Am 5. September 1687 kenterten kurz vor Lyss zwei völlig überfüllte Weidlinge auf der Aare. 111 von 137 Passagieren starben.
Die meisten Flüchtenden verliessen die Schweiz in Richtung Norden. Sie fanden ihre neue Heimat vor allem in Norddeutschland, einer Gegend, die infolge des Dreissigjährigen Krieges noch immer entvölkert war. Rund 20 000 Hugenotten blieben in der Schweiz. Anfänglich kam es zu Konflikten mit dem lokalen Gewerbe, langfristig war die Zuwanderung aber positiv. Die Hugenotten brachten neue Ideen und Produktionsweisen. Ihr vielzitierter Einfluss auf die Uhrmacherei wird gemäss neueren Forschungen indes gerne überschätzt.
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