Der Andreas bringt hier Patienten um! Dieser Satz macht am 16. September 1977 im Kantonsspital Zürich die Runde, als der junge Assistenzarzt Andreas Grüntzig im Operationssaal ans Werk ging. Nicht alle waren begeistert von der Experimentierfreude ihres Kollegen, wie sich seine damalige Laborassistentin Maria Schlumpf-Walker erinnert. Doch heute verdanken Millionen von Herzpatienten dem von Grüntzig entwickelten Ballonkatheter ihr Leben. Die sogenannte Ballondilatation ist zu einem der häufigsten medizinischen Eingriffe überhaupt geworden.
Geboren wurde Andreas Grüntzig 1939 in Dresden. Ende 1969 kommt er von der Max-Ratschow-Klinik im deutschen Darmstadt an die medizinische Poliklinik des Kantonsspitals in Zürich. Hier leistet er klinische Arbeit als Internist. Daneben erforscht und verbessert er eine bis dahin gebräuchliche Methode, mit der sich verstopfte Arterien in den Beinen eines Patienten ohne Operation weiten lassen. Bei der nach ihrem Erfinder Charles Dotter benannten Methode (Dottering) werden Katheter in verengte Blutgefässe eingeführt und übereinander geschoben. Die Methode ist umstritten; Grüntzig hat sich in den Kopf gesetzt, sie zu verbessern.
Als Entwicklungslabor dient die Küche in seiner Wohnung im Zürcher Universitäts- Viertel. Hier breitet er nach Feierabend regelmässig die Rohmaterialien – verschieden grosse Katheter sowie Gummis – und seine Ideen aus. Ihm schwebt vor, die verstopften Blutgefässe nicht mit Instrumenten auseinanderzudrücken, sondern sie mit einem Ballon zu dehnen. Stets an seiner Seite sind seine Gattin Michaela, die Laborassistentin Maria Schlumpf und deren Mann Walter. Die vier arbeiten gemeinsam und haben dabei eine gute Zeit. Manchmal gibt es selbstgemachte Pizza, fast immer eine Flasche Johannisberg. Nie hätten die Küchentisch-Forscher daran gezweifelt, dass ihr Tun einmal von grossem Nutzen sein würde, wie Michaela Grüntzig heute erzählt.
Unzählige Ballone aus verschiedensten Kunststoffen testet das Quartett. Sie führen sie in Gummiröhrchen ein, welche die verstopften Arterien simulieren, blasen sie auf. Doch immer scheitern sie am gleichen Problem: Damit die Ballone die Gefässverengung weiten, sollten sie eine längliche Wurstform haben. Aber die selbstgebastelten Prototypen passen sich einfach dem Blutgefäss-Modell an.
Erst als Grüntzig von Heinrich Hopff, einem Chemieprofessor der ETH Zürich, von dem Kunststoff Polyvinylchlorid erfährt, der sich formstabil verarbeiten lassen soll, geht es voran. Die Feierabendtüftler erhitzen das PVC mit kochendem Wasser, die Luft zum Aufpumpen kommt aus der Druckflasche, für die Befestigung der Ballone am Katheter sorgt handelsüblicher Schnellkleber. Die fertigen Ballone kommen zum Trocknen auf eine Wäscheleine, die quer durch die Küche hängt.
Am Nachmittag des 12. Februar 1974 ist es soweit: Der Prototyp aus der Küche soll erstmals im Krankenhaus zum Einsatz kommen. Ein paar Tage zuvor hat Grüntzig anhand eines Röntgenbildes die Verengung einer Beinarterie eines Patienten ausgemessen und den passenden Ballon angefertigt. Der Eingriff am lebenden Objekt glückt. Die Verengung lässt sich weiten und der Ballonkatheter danach problemlos aus der Arterie ziehen. Dies bei nur lokaler Anästhesie. Auch die Langzeitkontrollen fallen positiv aus.
Während Andreas Grüntzig im Kantonsspital die Beinarterien von vielen Patienten mit seiner Erfindung weitet, werkelt er zu Hause weiter. Ziel ist, mit einer kleineren Ausgabe seines Ballonkatheters Verengungen in den Herzkranz-Gefässen zu öffnen.
Immerhin ist dieser Eingriff auch für den erfinderischen Kardiologen so heikel, dass er ihn im Jahre 1975 zuerst an Berner Sennenhunden ausprobiert. Mit Erfolg.
Dann findet Grüntzig in Dölf Bachmann den idealen Patienten. Der 38-jährige Versicherungsverkäufer ist stark herzinfarktgefährdet und will keine Bypass-Operation, bei der ihm unter Vollnarkose der Brustkorb geöffnet werden müsste. Mit Grüntzigs Methode hingegen kann er sich anfreunden. Denn der Ballonkatheter wird unter lokaler Anästhesie im Bereich der Leiste in die Oberschenkelarterie eingeführt und bis zum Herzen hochgestossen. Ausserdem gefällt Bachmann die Idee, der Erste zu sein, der so behandelt wird. Doch zunächst muss er sich noch gedulden.
Es dauert ein Jahr, bis die Medizinaltechnikfirmen Schneider und Cook die professionelle Produktion der Ballonkatheter aufnehmen. Dann aber steht der Premiere am Herzen nichts mehr im Wege. Der Eingriff erfolgt am 16. September 1977. Auch wenn Ärzte-Kollegen am Zürcher Kantonsspital skeptisch sind, ihre schlimmen Befürchtungen erfüllen sich nicht. Denn Grüntzig bringt niemanden um, sondern rettet Dölf Bachmanns Leben. Dieser Erfolg katapultiert den mittlerweile 38-jährigen Arzt ins Zentrum des internationalen Interesses: Seine Demonstrationskurse werden aus Zürich live in die ganze Welt übertragen. Und schon ein Jahr darauf wird Andreas Grüntzig zusammen mit seinem Vorbild Charles Dotter für den Nobelpreis nominiert. Den Preis haben die beiden Pioniere zwar nie erhalten, dafür flatterten Grüntzig gleich mehrere Job-Angebote amerikanischer Hochschulen auf den Tisch. Im Jahr 1980 entscheidet er sich gegen Harvard und die Universität von Cleveland und nimmt den Ruf der Atlanta University an. Hier bietet man ihm dank der Unterstützung der Coca Cola Company optimale Arbeits- und Forschungsbedingungen. Er wird klinischer Direktor. Doch das Glück währt nicht lange: Am 27. Oktober 1985 kommt der «Retter der Herzen» zusammen mit seiner zweiten Frau bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Dölf Bachmann, der Mann, den Andreas Grüntzig als ersten mit einem Ballonkatheter behandelt hat, lebt noch heute.