Das musst du wissen

  • Als Erwachsener hat der Psychiatriepfleger Stephan Rey die Diagnose ADHS erhalten.
  • Seit einigen Jahren nimmt er täglich Ritalin.
  • Mit seinem neuen Buch über sein Leben möchte er die Öffentlichkeit für die Themen ADHS und Ritalin sensibilisieren.
Den Text vorlesen lassen:

Herr Rey, sind Sie nervös, wie man das von einem ADHS-Betroffenen erwarten würde?
Es geht, denn ich habe ein Ritalin geschluckt. Für ein Interview wie dieses nehme ich natürlich eine Tablette. Sonst wäre ich hypernervös.

Dann sind Sie nicht dauerhaft auf Ritalin?
Das Kurzzeit-Ritalin, das ich habe, wirkt für drei Stunden. Ich setze es ganz gezielt in stressigen Situationen ein. Beispielsweise bei der Arbeit, beim Autofahren oder wenn ich in Ruhe ein Buch lesen möchte. Ich bin aber schon jemand, der täglich konsumiert.

Ritalin – ein umstrittenes Medikament

Ritalin ist ein Medikament zur Behandlung von ADHS. Es enthält den Wirkstoff Methylphenidat. Dieser hemmt den Abtransport des Botenstoffs Dopamin im Gehirn, der bei ADHS-Betroffenen wegen einer zu hohen Konzentration an Transportproteinen zu schnell passiert. Der durch das Methylphenidat erhöhte Dopamin-Spiegel sorgt dafür, dass sich Personen besser konzentrieren können und ausgeglichener sind. Laut Schätzungen der Krankenkassen nehmen etwa die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit einer ADHS-Diagnose Medikamente mit Methylphenidat. Zahlen, die der Krankenversicherer Helsana für die NZZ hochgerechnet hat, zeigen, dass im Jahr 2017 insgesamt knapp 40 000 Schweizerinnen und Schweizer Ritalin konsumierten.

Die Abgabe von Medikamenten zur Behandlung von ADHS ist jedoch umstritten. Den bisher grössten Metastudien zu Folge ist weiterhin unklar, wie gut Methylphenidat wirkt. Auch könnte der Wirkstoff zu schwerwiegenden Nebenwirkungen wie Herz-Kreislauf-Problemen oder psychotische Störungen führen. Zu den bekannten häufigen Nebenwirkungen zählen Schlaflosigkeit und Appetitstörungen. Insgesamt ist die Qualität, der den Übersichtsanalysen zugrundeliegenden Studien, aber ungenügend. Dies erschwert die Einschätzung der positiven Effekte und Risiken. Und obwohl Medikamente wie Ritalin schon seit gut 50 Jahren verschrieben werden, existieren bis anhin keine verlässlichen Langzeitstudien über die Gefahren.

Wie wirkt das Ritalin bei Ihnen?
Es beruhigt, sortiert und büschelt mich. Sonst habe ich eine innere Unruhe, bin immer unter Strom. Von aussen merkt man das gar nicht so, aber in mir drin brodelt es. Und dann reichen Kleinigkeiten, damit ich impulsiv reagiere. Jetzt mit dem Ritalin konnte ich aber ganz entspannt und konzentriert mit dem Auto zu Ihnen nach Winterthur fahren. Meine Gedanken fingen nicht schon Stunden vor dem Termin an zu kreisen, um Fragen wie ob ich den Weg finden würde und einen Parkplatz. Wahrscheinlich wäre es auch ohne Ritalin irgendwie gegangen, so wie die letzten 45 Jahre ja auch. Aber es war immer sehr aufreibend und stressig. Darum gönne ich mir dieses Medikament jetzt, es ist für mich ein Luxus und bedeutet Lebensqualität.

Kritiker sagen, Ritalin sei eine Droge, die ruhig stelle und abhängig mache.
Ich weiss, dass Leute es als Droge missbrauchen. Ich hatte früher bei meiner Arbeit als Pflegefachmann in einer Klinik auch mit Drogensüchtigen zu tun, die sich Ritalin gespritzt haben. Für mich ist es aber ein Medikament und so wie es ein Mensch mit ADHS verordnet bekommt, macht das körperlich nicht abhängig.

Und psychisch?
Dass es einen psychischen Entzug gibt, würde ich nicht abstreiten. Wenn ich nervös bin und arbeiten muss, ist es für mich mit Ritalin einfach viel angenehmer. Ich bin also sozusagen abhängig davon, dass ich so gut Ruhe finden kann. Ich habe diese psychische Abhängigkeit aber auch von Büchern oder vom Fernseher.

Spüren Sie Nebenwirkungen?
Ritalin macht, dass man keinen Hunger hat. Ich kompensiere das aber jeweils, wenn die Wirkung nachlässt. Und manchmal habe ich auch einen trockenen Mund. Ansonsten merke ich nichts. Ich bin auch nicht sediert, wie Kritiker immer wieder sagen. Ritalin ist nicht vergleichbar mit einem Joint, der «high» macht.

Haben Sie Erfahrungen mit Cannabis?
Ja, ich habe mich wahrscheinlich lange mit beruhigenden Drogen selbst therapiert. Das ist auch etwas, das Menschen mit ADHS gerne machen. Das hat mir geholfen, runterzukommen und mich zu beruhigen – aber eben auch zu berauschen. Das habe ich mit Ritalin nicht, das macht mich nur ruhig.

Haben Sie auch Alternativen zu Ritalin ausprobiert?
Ja, ich habe Yoga und autogenes Training gemacht und es mit Bachblüten und Homöopathie probiert. Nichts hat aber den Effekt gebracht, den ich jetzt mit Ritalin habe. Ich habe aber auch keine der Alternativen lange durchgezogen. Das ist typisch: Menschen mit ADHS fangen gerne vieles an und hören rasch wieder damit auf.

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Ist das ADHS-Problem für Sie mit Ritalin also erledigt?
Man sollte nie nur eines machen. Experten sprechen von einer sogenannten multimodalen Therapie. Ich gehe auch viel in die Natur und ernähre mich ayurvedisch. Schaue also, dass ich Nahrungsmittel esse, die mich nicht aufpeitschen sondern beruhigen. Beispielsweise Huhn und Rind und ja kein Schweinefleisch, eher warm und nicht nach fünf Uhr abends. Ich merke, dass es mir gut tut. Das Problem ist aber, dass es mir auch hier schwerfällt, das konsequent zu verfolgen.

Nach der Diagnose im Alter von 45 Jahren haben Sie fünf Jahre gewartet, bis Sie Ritalin genommen haben. Wieso haben Sie so lange gezögert?
Ich war misstrauisch. Ich wollte es nicht nehmen, weil ich nur Schlechtes über das Medikament gehört hatte.

Und nun haben Sie sogar ein Buch darüber geschrieben.
Nach meinen positiven Erfahrungen mit dem Medikament empfand ich es als ungerecht, dass Ritalin immer nur kritisiert wird. Als ich von meinem Buchprojekt erzählt habe, wurde ich gefragt, ob ich nach zwei Jahren denn schon eine Aussage treffen könne. Vielleicht ist es zu früh, aber es gibt ganz viele Leute, die es noch nie oder nur ein, zwei Tabletten probiert haben und bereits wissen, dass es vom Teufel ist. Dass viele das Gefühl haben, sie wissen es besser, ärgert mich. Ich bin der Meinung, dass Betroffene erzählen müssen. Nur sie wissen wirklich, von was sie sprechen. Doch viele trauen sich nicht.

Stephan Rey

Stephan Rey ist diplomierter Pflegefachmann HF und arbeitet beim psychiatrischen Spitexdienst in Zürich. Mit 45 Jahren erhielt er die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. In seinem neuen Buch schildert er sein Leben mit dieser Veranlagung und seine Erfahrungen mit dem Medikament Ritalin. Die Autobiografie ist mit fachlichen Erläuterungen über ADHS und Therapieansätze ergänzt. Das Buch mit dem Titel «Warum zum Teufel Ritalin?» ist im Cameo Verlag erschienen. 

Woran liegt das?
Psychische Erkrankungen und Medikamente dagegen sind nach wie vor ein Tabu in der Schweiz. Da möchte man lieber nichts damit zu tun haben. Ich hoffe, dass mein Buch dazu beiträgt, dass die Leute offener werden und die Diskussion um ADHS und Ritalin weniger ideologisch geführt wird. Und ich möchte informieren. Denn unbehandelt führt ADHS zu Depressionen, Zwängen, Burnouts oder Ähnlichem. Auch ich war früher suchtgefährdet und hatte Angstattacken. Wichtig ist also, dass man etwas dagegen macht. Mein Weg ist Ritalin. Das ist aber sicher nicht für alle das Richtige.

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